Annette Kehnel: "Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit"
Blessing Verlag, 2021 München
488 Seiten, 24 Euro
Nachhaltige Wirtschaft – unsere Ahnen machen es vor
05:01 Minuten
Alljährlich im März zog es die armen Bauern rund um Florenz in die Stadt. Beim Pfandleiher tauschten sie ihre Wintermäntel gegen Bares, kauften Saatgut und lösten sie später wieder aus. Gemeinwohlorientiertes Wirtschaften - wie das geht, zeigt ein neues Buch.
In der Renaissance arbeiteten die Pfandleiher noch im städtischen Auftrag und taten das, ohne sich dabei die dicken Profite zu sichern, betont Annette Kehnel, Professorin für mittelalterliche Geschichte, in ihrem spannenden neuen Buch "Wir konnten auch anders". Ihr Werk ist ein faszinierender Streifzug durch gemeinschaftliche Formen des Wirtschaftens in vormodernen Jahrhunderten.
Mikrokredite längst erfunden
Die historische Forschung habe die Gemeinwohl-Wirtschaft bislang sträflich vernachlässigt, unterstreicht die Autorin. Und das lag nicht an der dürren Quellenlage, denn für das italienische Finanzwesen der Renaissance türmen sich in den historischen Archiven die Unterlagen. Die Forschung habe sich lieber auf die strahlenden großen Geldhäuser der Zeit kapriziert, als in mühseliger Kleinarbeit die Gerichtsakten, Protokolle, Urteilsbeschlüsse und Notariatsregister der kleinen Leute zu erfassen.
Und so haben viele Historiker schlicht übersehen, dass Kommunen das Prinzip der Mikrokredite, 2006 einen Wirtschaftsnobelpreis wert, schon vor Jahrhunderten praktiziert haben. In Norditalien ging es darum, dass breite Schichten der Bevölkerung eine Chance erhielten, am Wirtschaftsleben teilzunehmen – dafür taten sich Reichere zusammen, spendeten Geld, schoben ehrenamtliche Dienste in den Pfandleihhäusern und zahlten den Armen auf Heller und Pfennig wieder aus, was diese eingezahlt hatten.
Secondhand-Märkte, Flickschuster, Scherenschleifer
Beispiele über Beispiele findet die Autorin: Klöster, deren Bewohnerinnen und Bewohner alles miteinander teilten und so zu beträchtlichem Wohlstand kamen. Beginenhöfe, in denen ärmere und reichere Frauen ein entspanntes, ideologiefreies und dennoch religiös untermaltes Miteinander fanden. Ein ausgedehntes bargeldloses Verleihsystem der kleinen Leute untereinander. Riesige bunte Secondhand-Kleidermärkte in den großen Städten. Reparaturberufe, die den Großteil der Beschäftigungen ausmachten – Kesselflicker, Scherenschleifer, Flickschuster, Flickschneider. Und überall müsste die weibliche Form mitgenannt werden, denn Frauen mischten bis in höchste Verantwortungen kräftig mit. Annette Kehnel kann sogar zeigen: In mittelalterlichen Dokumenten ist die geschlechtergerechte Sprache meist eine Selbstverständlichkeit.
"Wo ist das Problem?"
Was für ein wunderbares Buch. Besonders entzückt die stilistische Lässigkeit, mit der die Autorin das "Damals" mit dem "Heute" verknüpft. Urban Gardening, Minimalismus, veganen Lifestyle – all das registriert sie nonchalant schon bei unseren Vorfahren.
Was würden die Alten empfinden, wenn es sie per Zeitreise plötzlich in die Gegenwart verschlüge? Unser Komfort würde sie sicher begeistern, ist die Autorin im Schlusskapitel gewiss. Aber als gottesfürchtige Menschen würden sie auch sofort die Schattenseiten sehen: Völlerei, Gier, Maßlosigkeit. Den Menschen früher sei gepredigt worden, dass es gelte, sich immer mal wieder zurückzufahren und ärmeren Mitmenschen zuzuwenden. "Ihr seid doch so modern und flexibel", würden sie wohl sagen. "Ihr habt Technologien und Demokratien, von denen wir damals nur träumen konnten. Es wäre so einfach, euch aus der Sackgasse der Wachstumswirtschaft zu befreien. Wo bitte liegt euer Problem?"
Was würden die Alten empfinden, wenn es sie per Zeitreise plötzlich in die Gegenwart verschlüge? Unser Komfort würde sie sicher begeistern, ist die Autorin im Schlusskapitel gewiss. Aber als gottesfürchtige Menschen würden sie auch sofort die Schattenseiten sehen: Völlerei, Gier, Maßlosigkeit. Den Menschen früher sei gepredigt worden, dass es gelte, sich immer mal wieder zurückzufahren und ärmeren Mitmenschen zuzuwenden. "Ihr seid doch so modern und flexibel", würden sie wohl sagen. "Ihr habt Technologien und Demokratien, von denen wir damals nur träumen konnten. Es wäre so einfach, euch aus der Sackgasse der Wachstumswirtschaft zu befreien. Wo bitte liegt euer Problem?"