Babyklappe und vertrauliche Geburt

"Ich kann dich nicht großziehen"

29:50 Minuten
Das SJS Babykörbchen befindet sich direkt neben einer Eingangstür, klar in blauen Schildern sichtbar.
Vor möglichst vielen Blicken geschützt liegt die Babyklappe am Bremer St. Joseph-Stift. Tagsüber trauen sich betroffene Mütter trotzdem kaum dorthin. © Deutschlandradio/ Heinrich Pfeiffer
Von Heinrich Pfeiffer  · 11.09.2022
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Mütter in Not können sich für die Babyklappe oder eine vertrauliche Geburt entscheiden. Sie bleiben anonym, die Kinder werden zur Adoption freigegeben. Johannes hat inzwischen eine neue Familie, doch seine Mutter will und kann er nicht vergessen.
Neben der Kapelle am Bremer St. Joseph-Stift steht in großer, blauer Schrift „Babykörbchen“. Das Schild führt zu einer Art Bretterverschlag. So anonym wie möglich soll es sein. Drinnen, auf der anderen Seite der Klappe, steht ein Wärmebett, welches immer auf Körpertemperatur beheizt ist. Das Babykörbchen.
„Von außen ist wirklich nur eine Klappe zu sehen, eine weiße Klappe, wo auch noch einmal extra draufsteht: Für Unbefugte nicht zu öffnen", sagt Güzide Kadah. Seit 13 Jahren arbeitet sie auf der Entbindungsstation. Jetzt macht sie mit mir die Probe. Sie öffnet die Klappe und muss automatisch an die Frauen denken, die ihr Kind dort ablegen.

Ein Brief im Wärmebett

Um ihnen die Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu gewährleisten, liegt ein sogenannter „Brief an die Mutter“ im Wärmebett. In ihm ist neben Beratungsangeboten ein Symbol vermerkt, mit welchem die Mutter zum Krankenhaus Kontakt aufnehmen kann.
Natürlich nur, wenn sie es sich noch anders überlegen sollte. „Wenn es am helllichten Tag geöffnet wird, kann es sein, dass es ein Indiz dafür ist, dass eine Mutter das geöffnet und einfach nur geguckt hat. Manchmal gibt es auch neugierige Passanten, die das öffnen", sagt Kadah. "Mütter, die das nutzen, oder Frauen, die wirklich die Not haben. Das ist meistens in der Abenddämmerung oder Morgendämmerung, dass man da niemanden sieht.“

Respekt vor dem Mut der Mütter

Güzide Kadah möchte schnell wieder von dem Ort verschwinden, für den sie zuständig ist. Paradox und doch verständlich. „Das ist kein so einfacher Weg, die Klappe zu öffnen", sagt sie. "Ich habe kein Kind, aber dennoch finde ich das immer sehr, sehr bedrückend und emotional. Ich will nicht wissen, was erst in der Mutter vorgeht.“
Wenn sie einen Alarm auf ihr Telefon bekommen, schauen Güzide Kadah oder ihre Kolleginnen zuerst über eine Kamera auf das Wärmebett. Dort ist nur das Bett zu sehen, alles, was vor der Klappe geschieht, nicht. „Ich verurteile nicht diese Mütter, im Gegenteil", so Kadah, "ich muss sagen, sie haben eher meinen größten Respekt." Schließlich gehöre viel Mut dazu, diesen Schritt zu gehen. "Das einfach zu tun, auch für das Kind letztendlich. Es geht um das Wohl des Kindes – und ganz viele Emotionen. Freude und Glück liegt da ganz nah beieinander.“

28 Kinder in 22 Jahren

Wenn die Klappe sich geschlossen hat, machen Kadah oder ihre Kolleginnen sich sofort auf den Weg zu den Säuglingen. „Ich habe zwei Kinder, da denk ich heute noch darüber nach. Das eine Kind war sehr süß eingepackt. Das Kind hatte passende Klamotten, und die Mutter hatte einen ganz, ganz langen Brief als Erinnerung diesem Kind hinterlassen. Da waren auch ihre Beweggründe beschrieben. Die letzten Zeilen lassen mich bis heute nicht los: Dass deine Mutter dich immer lieben wird.“
Güzide Kadah in den Räumen ...
"Ich verurteile diese Mütter nicht, im Gegenteil: Sie haben meinen größten Respekt." – Krankenpflegerin Güzide Kadah ist auf der Entbindungsstation auch für die Babyklappe zuständig.© Deutschlandradio/ Heinrich Pfeiffer
Ein anderes Mal lag ein in ihren Augen verwahrlostes Baby im Körbchen. „Da ist ganz kurz die Welt stehen geblieben, weil ich dachte: Oh mein Gott!" Ein ambivalentes Gefühl, meint Kadah. "Irgendwie ist man froh, dass die Mutter diesen Weg gegangen ist. Man ist erleichtert, dass sie diesem Kind eine Chance gibt. Aber andersrum denkt man, sie hat diesen Schritt gewagt.“

Die Spur der Mütter wird nicht verfolgt

Die Einrichtung Babyklappe gibt es bereits seit 22 Jahren. Anfangs war sie umstritten. Gegner argumentierten, man ermuntere damit Eltern, ihre Kinder abzugeben. Diese Befürchtung hat sich nicht bestätigt. Insgesamt wurden in all den Jahren nur 28 Kinder im Bremer St. Joseph-Stift bisher abgelegt. Nach der Behandlung in der Klinik kommen die Kinder meist über das Jugendamt zu Pflege- oder direkt zu Adoptiveltern.
Für Schwester Güzide Kadah ist jeder Fall ein Notfall. Schließlich zeige sich die Not der Mütter schon an deren Entscheidung, die Babyklappe zu nutzen. "Und das ist nicht planbar. Man weiß nicht, welche Beweggründe diese Mutter hatte. Ob sie überhaupt die Möglichkeit hatte, darüber nachzudenken, dass sie diese Tat überhaupt durchzieht.“ Tat deshalb, weil das Ablegen in das Körbchen noch immer eine Straftat darstellt.
Den ersten Zugriff auf das Kind hat auch nicht das Krankenhaus, sondern die Kriminalpolizei. Die beschlagnahmt alles, unter anderem den vielleicht abgelegten Abschiedsbrief. Die Spur der Mütter wird aber nicht verfolgt. Einmal, erinnert sich Kadah, hat eine Mutter ihre Entscheidung bereut. „Die Mutter hat letztendlich aus einer Kurzschlussreaktion gehandelt und keinen Ausweg gefunden, fand das aber zu dem Zeitpunkt gut. Das schilderte die vom Jugendamt. Ihr wurden dann andere Hilfen nochmal zugesichert – und sie hat das Kind wirklich nochmal zu sich geholt.“
Güzide Kadah ist stolz, zuständig für die einzige Babyklappe Bremens zu sein. Abschließen mit den Fällen kann sie, wenn Pflege- oder Adoptiveltern nach einiger Zeit die Entbindungsstation besuchen kommen, um einfach „Danke“ zu sagen. 

Johannes wurde im Krankenhaus abgegeben

Danke sagen. Das hat auch Familie Möllerhaus getan. Nicht in Bremen, sondern in Nordhorn im Emsland. Aus der Babyklappe dort kommt ihr Adoptivsohn Johannes. Zusammen mit ihm sitze ich jetzt im Auto auf dem Weg zur Musikschule.
Neun Jahre ist es her, dass seine leibliche Mutter ihn im Krankenhaus abgab. Er zählt als Babyklappenkind, auch wenn bei ihm alles etwas anders lief. Johannes wurde nicht klassisch in die Babyklappe gelegt. Seine leibliche Mutter traute dem System nicht, denn es war ein Freitag vor Pfingsten und sie wollte sichergehen, dass Johannes wirklich in Obhut genommen wird. Ihre Angst war, dass die Babyklappe feiertags nicht besetzt sein könnte. Deshalb drückte sie der ersten Person, die sie im Krankenhausflur sah, das Baby in die Arme und verschwand. Jugendamt und Krankenhaus erzählten die Geschichte später nach der Adoption Familie Möllerhaus. Johannes ist jetzt ihr Sohn und sie seine Eltern.
Da Familie Möllerhaus auf dem Land wohnt, müssen wir das Auto nehmen, um zum Schlagzeug- und Gitarrenunterricht nach Meppen zu kommen. Während Johannes Unterricht bekommt, spreche ich mit Andreas und Katja Möllerhaus. Wir sitzen bei ihnen zu Hause im geräumigen Wohnzimmer am Esstisch. Der Raum ist gefliest. Es gibt einen Kamin und Fußbodenheizung. Familie Möllerhaus wohnt in einem Doppelhaus, das sie sich mit den Eltern von Katja teilen. Im Rühlermoor, nahe der Stadt Meppen. Sie ist leitende Kindergärtnerin im Dorf, er Landmaschinenschlosser zwei Orte weiter.

Katja und Andreas wollten unbedingt ein Kind

Sechs Jahre haben sie probiert, selbst ein Kind zu bekommen. Die Behandlung kostete viel Geld und noch mehr Kraft. „Die Termine waren eigentlich nicht so dramatisch", sagt Andreas Möllerhaus, "aber dieser psychische Druck und dann auch im Bekanntenkreis womöglich Sprüche zu hören wie: Ihr wollt das einfach zu doll und ihr seid selbst schuld."
Mehrmals wird Katja in dieser Phase künstlich befruchtet. Immer wieder hat sie Fehlgeburten. Das Paar igelt sich ein, hat wenig Kontakt nach außen. Als sie mir das alles erzählen, fließen Tränen.
Heute realisieren beide, dass sie sich damals vielleicht psychologische Hilfe hätten holen sollen. Doch ihre Ehe hält, ihre Beziehung wird sogar inniger und stärker und sie sprechen gemeinsam über Themen, die für die Generation ihrer Eltern, aber auch für viele ihrer Bekannten tabu sind. Über "Männlichkeit und diese Scham, bei uns funktioniert es nicht. Dass man auch über diese sexuellen Dinge miteinander gesprochen hat, was vom Familienhaus her nicht Thema gewesen wäre.“

"Den gebe ich nicht wieder her"

2012 beschließen sie gemeinsam mit ihrem Arzt, dass sie kein Kind selbst bekommen werden. Stattdessen entscheiden sich die beiden für eine Adoption und absolvieren Schulungen zur Pflege- und Adoptionselternschaft. Ein Jahr später kommt der Anruf vom Jugendamt: Es gibt ein abgelegtes Baby aus der Klappe in Nordhorn. Johannes war da gerade ein paar Wochen alt und in einer Übergangspflege, um der leiblichen Mutter noch die Chance zu geben, ihn wieder zurückzuholen.
„Dann nach zwei Wochen haben sie uns so langsam kontaktiert", erinnert sich Andreas. "Dann haben sie uns erst kennenlernen wollen und beim zweiten Treffen sind wir auch schon zu Johannes hingefahren. Katja hat ihn kurz auf dem Arm gehabt und gesagt: Den gebe ich nicht wieder her. Das ist meiner.“
Familie Möllerhaus vor ihrem Heim stehend bei strahlendem Sonnenschein.
Katja, Andreas und ihr Sohn Johannes. Ein Kind hat sich das Ehepaar Möllerhaus schon lange gewünscht.© Deutschlandradio/ Heinrich Pfeiffer
„Can’t Stop“ von den Red Hot Chilli Peppers ist der Abschlusssong von Johannes und seinem Lehrer. Der Unterricht ist zu Ende. Wir fahren wieder zusammen zurück ins Rühler Moor. Ich frage Johannes, ob er mir noch die gerade gelernten Rhythmen zeigen will. Wir gehen hoch in ein büroähnliches Zimmer. Hier steht Johannes Schlagzeug. Da ich auch Schlagzeug spiele, helfe ich ihm bei ein paar Feinjustierungen, zeige, wie die Felle gestimmt werden.

Mama und Bauchmama

Nach dem Schlagzeugspielen frage ich Johannes, ob es stimmt, dass er seine Adoptiveltern schon sehr früh gefragt hat, ob seine neue Mama wirklich seine Mama ist. Johannes nickt. Andreas und Katja nennen seine leibliche Mutter Bauchmama. Er findet das ein bisschen komisch, versteht aber, dass sie es ihm damit etwas leichter machen wollen. Jetzt will er mir seine Matchbox-Autosammlung zeigen.
Johannes nimmt mich mit in seinen Alltag, sein Leben, einfach die Dinge, die so passieren, wenn er nicht in der Schule ist. Neben Fußballverein und Musikschule liebt er es auf dem Trampolin im Garten zu springen. Das Trampolin hat einen Wasserfilm vom Regen. Als wäre alles wie immer, springt Johannes einfach los, macht Schrauben und Rollen in der Luft.
Ich bin beeindruckt, möchte aber auch noch eine Frage zu seiner Mutter loswerden. „Eine Frage ist okay“, sagt Johannes, und ich frage ihn, wie seine Freunde damit umgehen, dass er ein abgegebenes Kind ist, dass er im Gegensatz zu ihnen nicht weiß, wer seine leiblichen Eltern sind. „Ich habe denen gesagt, dass ich da nicht drüber sprechen will, und dann machen die das auch nicht“, antwortet er. Ich hake nochmal nach, warum er nicht darüber sprechen möchte: „Weil ich das einfach traurig finde", sagt Johannes, "dass ich meine Mutter nie gesehen habe.“
Zusammen mit Andreas und Katja hat er deshalb einen kleinen Artikel für die Lokalzeitung in Nordhorn aufgesetzt. "Den müssen wir nur noch abschicken", sagt er und hofft, dass sich seine leibliche Mutter meldet.

Zweiter Ausweg: vertrauliche Geburt

Um zu verstehen, in welcher Lage sich Frauen befinden, wenn sie sich entscheiden, ihr neugeborenes Baby abzugeben, treffe ich mich mit Judith Hennemann. Sie arbeitet bei Cara in Bremen, einer Schwangerenberatungsstelle. Cara ist in dem kleinen Bundesland auch die einzige Stelle, wo Frauen entscheiden können, ihr Kind vertraulich zu bekommen. Ein bis drei Frauen pro Jahr fällen diesen Entschluss. Im ersten Corona-Jahr waren sogar acht Frauen bei Hennemann mit dem Wunsch, ihr Kind vertraulich zu bekommen. Der Grund ist oft häusliche Gewalt.
Eine vertrauliche Geburt ist neben der Babyklappe eine weitere legale Option, in Deutschland sein Neugeborenes in Obhut zu geben. Doch im Gegensatz zur Babyklappe wird bei der vertraulichen Geburt dafür gesorgt, dass eine medizinische Versorgung sichergestellt ist. Beratende wie Judith Hennemann begleiten die Frauen auf dem Weg und sind in dem Prozess an die gesetzliche Schweigepflicht gebunden.
Im „Gesetz zum Ausbau der Hilfen für Schwangere und zur Regelung der vertraulichen Geburt“ ist festgehalten:
„Wünscht die Schwangere eine vertrauliche Geburt, wählt sie 1. einen Vor- und einen Familiennamen, unter dem sie im Verfahren der vertraulichen Geburt handelt (Pseudonym), und je einen oder mehrere weibliche und einen oder mehrere männliche Vornamen für das Kind. Die Beratungsstelle hat einen Nachweis für die Herkunft des Kindes zu erstellen. Dafür nimmt sie die Vornamen und den Familiennamen der Schwangeren, ihr Geburtsdatum und ihre Anschrift auf und überprüft diese Angaben anhand eines gültigen zur Identitätsfeststellung der Schwangeren geeigneten Ausweises. Der Herkunftsnachweis ist in einem Umschlag so zu verschließen, dass ein unbemerktes Öffnen verhindert wird.“

Die Identität der Mütter bleibt geschützt

Bei Hennemann schreiben die Frauen also ihre Daten auf, sie schaut einmal drauf und verwahrt dann alles bis zum 16. Geburtstag des Kindes. Mit diesem Alter erhält das Kind rein rechtlich den Anspruch auf „Kenntnis der eigenen Abstammung“. Wichtig bei dem gesamten Prozess ist, dass die Identität der Mutter geschützt bleibt.
Porträt von Judith Hennemann.
Judith Hennemann berät Frauen, die ihr Kind vertraulich entbinden möchten. Diese kämen aus unterschiedlichsten sozialen Milieus und aus unterschiedlichsten Gründen, sagt sie.© Kerstin Rolfes
Hennemann vermittelt die Frauen in ein Krankenhaus. Dort weiß dann schon niemand mehr, wer die Schwangere ist. „Dieses Gesetz ist nicht gerade niedrigschwellig", räumt Hennemann ein. Deswegen sei oft auch schwer vermittelbar, was das überhaupt soll. "Wenn eine Schwangere in Not hier ankommt und sagt, sie möchte einfach nur, dass es zu Ende ist und dass es jetzt zu spät für einen Abbruch ist und sie kann dieses Kind nicht behalten, und dann eben all das durchzugehen, was es bedeutet, wenn sie vertraulich entbindet, beziehungsweise, was es bedeutet, wenn sie es nicht tut.“

"Was man nicht sehen will, sieht man nicht"

Die Sozialpädagogin berichtet mir von Situationen, für die das Gesetz keine Lösung parat hat. Alleinerziehende beispielsweise, die eine Betreuung der größeren Kinder während ihrer vertraulichen Geburt benötigen. Eine der Lücken in dem 2014 eingeführten Gesetzestext.
Doch wer kommt überhaupt zu Hennemann mit dem Wunsch der vertraulichen Geburt? Das könne man nicht eingrenzen, meint Hennemann. Es kämen die unterschiedlichsten Menschen mit den unterschiedlichsten Lebenssituationen. "Wenn ein Bild entsteht von jemandem, der in total prekären Verhältnissen lebt: Das stimmt nicht. Wir haben hier auch die Alleinerziehende, die voll Berufstätige, die in einer Beziehung ist, durch eine Affäre schwanger geworden ist und das viel zu spät bemerkt hat. Das ist ja auch interessant: Was man nicht sehen will, sieht man nicht, sodass die Frauen die Schwangerschaft zum Teil erst in der 24. Woche bemerken.“

Beratung in extremer Notsituation

Die Frauen vertrauen sich Hennemann oft gar nicht erst an. Der Ausnahmezustand, in dem sie sich befinden, lässt – so das Gefühl der Beraterin – keinen Platz für ein Aufarbeiten, ein Besprechen der eigenen Notlage.
Eine Schwangerschaft sei nicht der richtige Zeitpunkt für eine intensive psychologische Beratung – vor allem, wenn körperliche Gewalt mit im Spiel ist. Hennemann erinnert sich an eine sehr junge Schwangere, die sich sehr bewusst entschieden habe: Das geht nicht in meinem Leben, dann wäre alles kaputt. Trotzdem hätte sie keine negativen Gefühle gegenüber dem Kind gehabt, sondern sich zunehmend mit diesem beschäftigte. "Die dann plötzlich sehr fürsorglich wurde und weite Strecken gefahren ist, um zum Beispiel schwimmen zu gehen. Sie wollte, dass das Baby in ihrem Bauch, sie zusammen schwimmen gehen. Die hatte dann so Ideen und hat das gemacht.“
Die Geschichten der Frauen, die eine vertrauliche Geburt mit ihrer Beratung durchführen wollen, bleiben Judith Hennemann besonders im Gedächtnis. Zu extrem seien die Umstände. „Das ist einfach sexualisierte Gewalt gegen Frauen, dass das auch in Beziehungen nach wie vor passiert und Frauen sich nach wie vor so in die Enge getrieben fühlen, keinen Ausweg haben. Das machen die ja nicht aus Jux und Tollerei, sondern das ist ja eine extreme Notsituation. Wir hatten ein, zwei Fälle, wo wir wirklich um das Leben dieser Frauen Angst hatten, dass sie sich etwas antun.“

Fragen nach der leiblichen Mutter

Zurück im Emsland: Ich bin mit Andreas Möllerhaus draußen im Garten unterwegs. Er zeigt mir stolz einen Holzstapel. Immer, wenn abends mal etwas Luft ist, kommt er hierher. Ich nehme Andreas als einen Vater wahr, der nicht den klassischen Rollenklischees entspricht. Als Mann wirklich richtig Elternzeit zu nehmen, ist nicht üblich im Rühler Moor. Andreas hackt nicht nur Holz. Er macht den Haushalt, packt mit an, wo er gebraucht wird.
Johannes, erzählt er mir, habe schon früh begonnen, Fragen nach seiner tatsächlichen Herkunft zu stellen. Mit vier Jahren fragt er immer wieder, warum seine leibliche Mutter ihn weggegeben habe. „Wir haben ihm dann immer gesagt: Die hat dich so lieb gehabt, dass sie dich abgegeben hat, weil sie sich nicht so um dich kümmern kann, wie wir es können.“
Katja und Andreas erzählen Johannes von Anfang an, dass er nicht ihr leibliches Kind ist, und das bleibt auch weiter Thema. Heute, mit neun Jahren, kommen weitere Fragen zu seiner Herkunft – und beide stellen sich ihnen.

Johannes bekommt einen Bruder

Die Alternative sei gewesen, es Johannes in der Pubertät oder zu einem späteren Zeitpunkt zu erzählen. Das konnten sich Katja und Andreas allerdings unter keinen Umständen vorstellen. „Er hat letztens auch die Frage gestellt: Wenn ihr jetzt ein Kind gekriegt hättet auf normalem Wege, dann wäre ich ja gar nicht bei euch, dann wärt ihr ja gar nicht meine Eltern", erzählt Andreas. "Das ist dann auch schwierig zu erklären. Du bist halt wie unser Kind und wir haben dich genauso gewünscht. Ich habe ihm letztens gesagt, sollte ich ein Kind malen, dann wärst genau du das, weil wir dich genauso wollten, wie du bist.“
Andreas will Johannes stärken, ihm das Gefühl geben, dass das jetzige Leben gemeinsam so genau richtig ist, und glaubt, dass auch der beschwerliche Weg bis zur Adoption irgendwie mit zu ihrer Geschichte gehört. Für Johannes jedenfalls fühlt es sich richtig an.
Vor vier Jahren, mit gerade mal fünf Jahren, hat er Katja und Andreas mit einer Idee nochmal ganz schön überrascht. „Da hat Johannes irgendwann gesagt, wollen wir nicht noch einem Kind so eine Chance geben, so wie mir? Dass er sich entwickeln kann und dass er so eine Familie hat wie wir. Wir haben doch noch Platz, wir können doch noch ein Kind aufnehmen. Dann haben wir auch intensiv darüber gesprochen und ja, na gut, an sich hat Johannes recht. Wir haben noch die Möglichkeiten.“

"Eine normale Familie"

Seit drei Jahren ist nun auch Damian mit von der Partie: Langzeitpflegekind, keine Adoption. Das heißt, dass er noch unter der Obhut des Jugendamtes steht, Katja und Andreas aber der elterliche Bezug sind.
Für Johannes ist Damian wie ein Bruder. Es gibt Streit, beide spielen Fußball, springen Trampolin, erfinden gemeinsam neue Spiele. Johannes fühlt sich verantwortlich für ihn und dabei ist es ihm egal, wer wie, woher kommt. „Klar gibt es da auch Situationen, wo er sagt, vielleicht gar nicht so gut, dass er hier ist, aber es ist völlig normal, das wäre bei normalen Geschwistern auch so, dass es Reibereien gibt, und ich finde, wir sind doch irgendwo noch eine normale Familie.“ 

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