Autor Dany Laferrière

"Ich möchte ein Dichter des Alltäglichen sein"

Der haitianische Autor Dany Laferrière.
Der Schriftsteller Dany Laferrière wurde 1953 in Port-au-Prince geboren. 1976 verließ er seine Heimat, er lebt heute in Montréal und Miami. © AFP/ Jacques Demarthon
Dany Laferrière im Gespräch mit Sigrid Brinkmann · 19.05.2016
Der Kauf einer gebrauchten Schreibmaschine machte Dany Lafferière zum mittlerweile berühmten Schriftsteller. Für den haitianischen Autor, der seine Heimat 1976 verlassen hat, ist Schreiben vor allem ein "Fest des Innenlebens".
Sigrid Brinkmann: Dany Laferrière ist einer von eineinhalb Millionen Haitianern, die die vom Duvalier-Clan diktatorisch beherrschte Insel in den 70er-Jahren verlassen haben. Er ging nach Kanada, verdiente seinen Lebensunterhalt in Fabriken, hörte Jazz, schaute in den niedrig hängenden Himmel, kaufte eine gebrauchte Remington und begann zu schreiben.
Das Buch "Die Kunst, mit einem Neger zu schlafen, ohne müde zu werden" machte Dany Laferrière 1985 bekannt. Vier Jahre später wurde das Werk über Sex als einziges Mittel, an der Welt der Weißen teilzuhaben, verfilmt. Später hat er eigene Filme gedreht. Auf Deutsch erschien von Dany Laferrière zuletzt das hinreißend ironische und doch auch ernste Buch "Tagebuch eines Schriftstellers im Pyjama". Ich freue mich sehr, dem Autor gegenüber zu sitzen, willkommen in der "Lesart".
In einer der kurzen Sentenzen, mit denen Sie alle 182 Abschnitte im "Tagebuch eines Schriftstellers im Pyjama" beenden, heißt es "Schreiben ist vor allem ein Fest des Innenlebens". Das Fest: Ist das der Zustand völliger, unzensierter Offenheit?
Dany Laferrière: Ich glaube, dass jeder Schriftsteller in sich ein gewisses Maß an Zensur hat, denn wir leben in der Gesellschaft. Doch wir müssen, allen Hindernissen zum Trotz, möglichst präzise ausdrücken, was wir zu sagen haben. Dies ermöglicht uns auch die Poesie. Sie erlaubt es, weiter zu gehen und auf intimere Weise zu den anderen zu sprechen.

Die Bedeutung des Rhythmus für das Schreiben

Sigrid Brinkmann: Als Sie 2014 für "L'Énigme du retour" ("Das Rätsel der Rückkehr") den internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt bekamen, wurde betont, wie nah Ihr Buch am Jazz, am Blues sei. Welche Bedeutung hat der Rhythmus für das Schreiben?
Dany Laferrière: Wenn es einen Rhythmus gibt in dem, was ich schreibe, dann weiß ich das nicht so genau. Ich achte nicht darauf, einen bestimmten Rhythmus herzustellen. Ich folge meinem inneren Rhythmus und mein Ohr, mein musikalisches Empfinden, das für Musik im allgemeinen, - also für Töne, die von Musikern erzeugt werden– nicht viel taugt, ist doch sehr präzise, wenn es um Literatur geht. Das rührt daher, dass ich viel gelesen habe. Und ich glaube, die einzige Art und Weise, sein Ohr zu schulen ist, gute Schriftsteller zu lesen. Sie sind es, von denen wir am Ende diesen Rhythmus lernen, in dem sich Musik und Emotion vermischen.
Sigrid Brinkmann: Auf den Klang allein zu setzen, das birgt für Sie schon eine Gefahr. "Die Haitianer", schreiben Sie, "berauschen sich an der Musik der Wörter. Sie lieben schöne Worte. Aber Schönheit, die sich selbst genügt, ist hohl." Wie viel Anstrengung kostet es Sie, das "echte Gewicht" eines Wortes zu finden?
Dany Laferrière: Ich weiß das nicht. Ich versuche das Wort zu spüren. Borges nahm dafür ein Gedicht von Whitman zu Hilfe. Walt Whitman beschreibt darin den Ozean, das Meer. Damals wollte Borges selbst ein Gedicht schreiben, das an jenes Gedicht von Whitman erinnerte. Doch am Ende seines Lebens wollte Borges ein Gedicht über das Meer schreiben, das an das Meer denken ließ.
Das heißt für mich, "Es regnet" so aufs Papier zu bringen, dass der Eindruck entsteht, den Regen fallen zu hören. Das braucht viel Zeit. Man muss vor allem einiges wegnehmen, bis man das Wort möglichst in seinem nackten Zustand erhält. Es ist jedes Mal ein kleines Wunder. Und das einzige Versprechen der Literatur ist : Zu erreichen, dass der Regen fällt.

Magie des Alltäglichen

Sigrid Brinkmann: "Direkt aus dem Leben gegriffen" sollte eine Geschichte sein: welche Aspekte am Alltag interessieren Sie besonders? Man hat den Eindruck, dass Sie das Paradox lieben, Verschachtelungen…
Dany Laferrière: Am Alltäglichen interessiert mich seine Magie. Sie spielt sich vor unseren Augen ab und wir halten sie für ganz natürlich. Doch in dem, was sich ständig vor unseren Augen ereignet, ist so viel Magie. Nehmen wir nur alles, was den Körper betrifft. Bei der Frage, ob ich am Himmel fliegen möchte wie ein Vogel - das ist wohl einer der ältesten Träume der Menschheit, von Ikarus bis zum Flugzeug -, würde ich eher den ganz natürlichen, konzentrierten und zugleich lustvollen Vorgang wählen, pissen zu gehen. Es ist nicht mehr als eine Aufgabe, die man dem Körper stellt, nämlich das überschüssige Wasser auszuscheiden, ein banaler Mechanismus. Und doch vermögen wir dabei ein Lustgefühl zu empfinden, die Erleichterung von dem kleinen Schmerz durch das überschüssige Wasser.
Dies zeigt uns, dass am Alltäglichen vieles magisch ist, dass es sogar magisch ist in Dingen, die ausgesprochen vulgär und prosaisch sind. Dante hat in diesem Zusammenhang etwas gesagt, was mich nachdenklich gemacht hat. Er, der große Dichter der eher barocken und apokalyptischen Themen, hat einmal über Homer gesagt: "Hoch über unseren Köpfen fliegt, mit großen Flügelschlägen, Homer. Er ist der größte, weil er der Dichter des Alltäglichen, des Prosaischen und Gewöhnlichen ist." Als Dichter des Alltäglichen zu gelten, würde mir gefallen.

Ein Leben im Dreieck zwischen Montréal, Paris und Port-au-Prince

Sigrid Brinkmann: Wie nehmen Sie den Unterschied zwischen der literarischen Welt in Ihrer Heimatstadt Montréal und Paris wahr?
Dany Laferrière: Ich würde eine dritte Stadt hinzufügen, Port-au-Prince, denn ich lebe sozusagen in diesem Dreieck: Port-au-Prince, Montreal, Paris. In Port-au-Prince ist die Literatur wirklich das Leben, denn sie bringt kein Geld ein. Lange Zeit waren die Schriftsteller verfolgt von den dort herrschenden Diktatoren, daher hat sich die Literatur sehr rein gehalten. Es gibt nicht viele Literaturkritiker, nicht viele Verlage, die haitianischen Schriftsteller publizieren meist im Selbstverlag. Dennoch ist die haitianische Literatur eine der dynamischsten dieser Gegend der Welt.
Als ich 1976 nach Montreal kam, hatte die Literatur dort noch nicht die Bedeutung wie heute. Nicht, dass es keine bedeutenden Schriftsteller gab, aber die Verlage waren noch nicht so stark. Heute ist Montreal ein Ort, wo es viele gute Buchläden, gute Verlage und sehr interessante Kritiken gibt. Ich konnte also die Entwicklung einer ganz neuen Literatur miterleben.
Wissen Sie, Paris ist Paris - es war schon immer eines der großen Zentren der Literatur. Das hat nichts mit der französischen Sprache zu tun. In dieser Stadt begegnen sich Schriftsteller, die französisch, englisch oder deutsch, chinesisch oder japanisch sprechen, da sie von überall auf der Welt kommen.
Paris ist also eines der großen literarischen Zentren. Und ich vermag nicht darüber zu urteilen, da ich nicht alle literarischen Vernetzungen und Leistungen kenne in einem Land, wo im Jahr mehr als 1000 Bücher verlegt werden. Es gibt zwei, drei Gelegenheiten im Jahr, zu denen jedes Mal 500, 600 Bücher veröffentlicht werden. Das übersteigt meine Lesekapazität - vor allem, weil ich vieles mehrmals lese.

Die literarischen Favoriten: Borges, Miller, Bukowski

Sigrid Brinkmann: "Ein Buch" notieren Sie, "besteht aus vielen anderen Büchern" – welche Autoren gehören in Ihre Bibliothek? Welche bücher lesen Sie immer wieder? Den argentinischen Dichter und Erzähler Jorge Luis Borges, der erblindet war und dennoch die Nationalbibliothek in Buenos Aires leitete, nennen Sie immer wieder. Wer ist noch wichtig?
Dany Laferrière: Ich antworte auf diese Frage, obwohl ich sie üblicherweise nicht beantworte, denn im Bereich des Lesens werden die Leute mehr und mehr zu Fetischisten. In den Zeitungen, im Radio fragt man die Schriftsteller, welche ihre Autoren sind, und die Leser lesen sie dann. Dagegen wäre es wünschenswert, wenn die Leser mehr und mehr andere, ungewöhnliche Bücher läsen. Bücher, die man nicht so leicht findet, die nie genannt werden, dass die Leser selbst in Buchläden und Bibliotheken auf die Suche gingen nach Autoren, die nicht überall auf dem ersten Präsentiertisch der Buchhandlungen liegen.
Ich weiß nicht, ob Ihnen das auch auffällt, heute werden sogar in den Illustrierten immer häufiger Listen von Büchern abgedruckt, um die man die Schriftsteller gebeten hat. Ich glaube, das ist ein Hindernis für die Neugierde des Lesers. Die Leser geben dem, was der Schriftsteller sagt, eine zu große Bedeutung.
In meinen Büchern ist sehr viel von Schriftstellern die Rede. Borges mag ich am liebsten, man kann sagen, er ist mein Führer durch die engen Pforten. Ich habe ihn in einem kleinen Buchladen in der Rue Saint Denis von Montreal entdeckt. Und nun lese ich seit vierzig, oder sagen wir fünfunddreißig Jahren, praktisch jeden Abend Borges.

Henry Miller sieht die Welt als amüsierter Beobachter

Henry Miller mag ich sehr, weil ich finde, in dieser Welt, wo alles so angespannt ist, und wo die Menschen unentwegt eine Moral im Munde führen, betrachtet Miller die Welt als amüsierter Beobachter. Das Gute und das Böse, der schlechte und der gute Mensch, der Verräter und der Held, alles bekommt fast die gleiche Bedeutung unter seinem Blick, der stets wohlgesonnen ist, denn ihn interessiert vor allem das Leben selbst. Er findet, um zwei Uhr nachmittags in einem Straßencafé ein Glas Wein zu trinken, das reicht für ein gutes Leben.
Bukowski ist das Gegenteil von Borges, ein vulgärer, direkter, hässlicher Mann, mit einer dicken Nase, einem Wanst, fetten Oberschenkeln, aber er ist einer der elegantesten Stilisten, die ich kenne. Ein sanfter Mann mit einem weichen Herzen, einer ordinären Sprache, einer anrührenden Liebe zu seiner Tochter, und von einer erstaunlichen Menschlichkeit, wenn man seine Bücher liest.
Tanizaki, der Japaner, ist eher der Beobachter mit dem messerscharfen, fast klinischen Blick, hat aber immer ein Lächeln auf den Lippen. Sein "Tagebuch eines alten Narren" und "Der Schlüssel. Schamlose Bekenntnisse" sind Bücher, die mich sehr berühren, denn ich schätze Tanizakis Modernität, vor allem, wenn man weiß, dass er später ein sehr traditioneller Schriftsteller wurde.
Bulgakow, der Russe, ist vor allem witzig. Sein "Meister und Margerita" ist neben "Portnoys Beschwerden" von Philip Roth eines der Bücher, bei denen ich am meisten gelacht habe. Ich habe gelacht und doch bemerkt, dass es vielleicht die genaueste Beschreibung von Moskau ist. Er hat als Schriftsteller unter Stalin schwierige Zeiten durchgemacht, ist aber immer hellwach geblieben und hat sich seine Intelligenz und Eleganz bewahrt.
Es gibt noch so viele andere, etwa den Haitianer Jacques-Stephen Alexis, ein hochinteressanter Schriftsteller. Er kam auf ähnliche Weise zu Tode wie einer der Helden aus seinem berühmtesten Roman, "General Sonne". Und es gibt noch so viele, so viele andere.

Hören Sie hier das Gespräch mit Dany Laferrière im französischen Originalton: Audio Player

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