Autor Boualem Sansal über Algerien

"Wenn alle gehen, kann sich nichts verändern"

11:48 Minuten
Porträt des Schriftstellers Boualem Sansal, 2016.
Autor Boualem Sansal will trotz der angespannten Lage in Algerien bleiben. © imago/Leonardo Leemage
Moderation: Frank Meyer · 22.11.2019
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In seinem neuen Roman "Der Zug nach Erlingen" thematisiert Boualem Sansal die Angst vor dem Terrorismus. Der Autor sorgt sich um seine Heimat Algerien, die der islamistische Terror zerstört habe: Immer mehr Regimekritiker verlassen das Land.
Die Situation in Algerien ist äußert angespannt. Neuwahlen stehen an – viele Regimekritiker befürchten, dass es keine fairen Wahlen geben wird und dass es gewaltsame Übergriffe des Militärs gegen die Bevölkerung geben könnte. Auch der vielfach ausgezeichnete algerische Autor Boualem Sansal, der vor allem in Frankreich viel gelesen wird und in Deutschland 2011 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde, gehört zu den starken Kritikern der Regierung und des fundamentalistischen Islam.
Gerade ist sein neuer Roman herausgekommen: "Der Zug nach Erlingen oder Die Verwandlung Gottes". Es ist der letzte Teil einer Trilogie, in der sich Boualem Sansal mit dem Thema Islamismus auseinandersetzt und zugleich ein kraftvolles Plädoyer, sich den Herausforderungen der Gegenwart zu stellen.
Das Städtchen Erlingen wird von einem unbenannten und unbekannten Feind belagert und bedroht. Dieser Feind hat kein anderes Ziel, als alle Menschen seinem Gott zu unterwerfen. Die Bevölkerung von Erlingen wartet derweil fieberhaft und gottergeben auf einen Zug, der sie angeblich evakuieren wird. Doch der Zug kommt nicht.

"Deutschland ist ein reiches Land mit vernünftigen Menschen"

Sein Buch könne als eine Metapher auf eine Welt in Angst gelesen werden, sagt der mittlerweile 70-jährige Autor. "Alle Länder in der Welt leben in dieser Angst – vor dem Islam, vor dem Kommunismus, Terrorismus, vor den ökonomischen Krisen oder vor der Globalisierung. Und jedes Volk reagiert auf seine eigene Weise."
Ein Teil der Handlung spielt in einer Pariser Banlieue, den anderen hat Sansal in Deutschland angesiedelt. Warum ausgerechnet in der deutschen Provinz? "Deutschland ist so ein reiches Land mit vernünftigen Menschen. Und deswegen habe ich mir diese kleine Stadt in der Provinz ausgesucht – sehr bürgerlich, sehr reich. Und in diese Idylle bricht plötzlich eine Angst hinein."

Sorge um seine Heimat Algerien

Auch der Autor hat Angst – um sein Heimatland, das vom islamistischen Terror zerstört werde. Anfangs hätten viele Landsleute noch gedacht, es werde schon nicht so schlimm werden. Doch mittlerweile seien schon Tausende von Todesopfern zu beklagen – "und bis heute ist mein Land nicht davon geheilt", sagt Sansal. Weil das Thema ihn so sehr bewege, habe er mittlerweile drei Romane darüber geschrieben.
Die Islamisten warteten derzeit auf den geeigneten Moment, an dem sie hervortreten und den Islam als Lösung für alle Probleme präsentieren könnten. Für Sansal steht viel auf dem Spiel: Es gehe um die Demokratie, um die Republik, um die Wirtschaft und um die Gleichheit von Mann und Frau.

Hören Sie hier das Interview im französischen Original ohne Übersetzung:
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Mit Sorge blickt der Autor auf die bevorstehenden Wahlen am 12. Dezember: Zur Wahl stünden fünf Kandidaten, und alle seien Angehörige der Armee. "Und das ist genau das, was die Leute auf der Straße überhaupt nicht wollen." Die Menschen in Algerien wollten einen richtigen Wahlkampf und eine neue, demokratische Verfassung.

Beim Schreiben gelten bestimmte Spielregeln

Sein Land würde Sansal angesichts der Zustände dennoch nicht verlassen. Und er hofft, dass auch andere – Schriftsteller, Gelehrte, Ärzte, Ingenieure – das Land nicht verlassen. "Das ist eben mein Land. Und ich zähle nicht zu den Algeriern, die das Land verlassen, um es im Stich zu lassen. Denn wenn alle gehen, kann sich nichts verändern. Nur, wenn die Leute bleiben, die für Demokratie sind, passiert etwas."
Vor 20 Jahren seien viele Kollegen wegen ihrer Schriften verhaftet worden, derzeit sei es nicht so dramatisch. Dennoch müsse man beim Schreiben bestimmte Spielregeln beachten. "Solange sie den Präsidenten, den Islam oder die algerische Befreiungsbewegung – also, den algerischen Befreiungskrieg – nicht direkt anklagen, dann können sie eigentlich schreiben, was sie wollen." Mit ein paar Ausnahmen – dazu gehöre zum Beispiel die Thematisierung von Homosexualität. Sansals eigene Werke waren zeitweilig verboten.
(mkn)

Boualem Sansal: "Der Zug der Erdingen oder Die Verwandlung Gottes"
Aus dem Französischen von Vincent von Wroblewsky
Merlin, 2019
260 Seiten, 24 Euro

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