Aus den Feuilletons

Urmel aus dem Eisfach

Die Marionette Urmel, aufgenommen am 13.11.2014 in der Ausstellung zur Augsburger Puppenkiste im Puppentheater in Magdeburg (Sachsen-Anhalt). Foto: Jens Wolf
Die Marionette Urmel, aufgenommen in einer Ausstellung in Magdeburg © picture alliance / dpa / Jens Wolf
Von Hans von Trotha · 07.09.2015
Der Tod von Max Kruse regt zum Philosophieren über die von ihm erfundene Urmel-Fabel an: ein modernes Märchen, aus der Gefriertechnik geboren, schreibt die "FAZ". Kruse habe mit Ende, Preußler und Krüss die Gruppe 47 der Kinderautoren gebildet, findet die "Welt".
In der SÜDDEUTSCHEN versucht uns der Historiker Fabian Hilfrich unter dem Titel "Die Glaubwürdigkeitsfalle" nahezubringen, warum "die politischen Entscheidungen, die Amerika in den Vietnamkrieg trieben, eine historische Warnung" sind. Er zitiert einen US-Senator, der damals sagte:
"Um Vietnam zu verstehen, muss man einsehen, dass es sich gar nicht um Vietnam dreht", das heißt, wie Hilfrich erläutert:
"Das nationale Interesse galt nicht Vietnam als realem, sondern als symbolischem Ort, an dem die USA die neuen Konflikte stellvertretend bewältigen mussten."
Eine Denkweise, die Hilfrich bei Barack Obama wiedererkennt.
Katastrophale Situation der USA
Bei Dietmar Dath klingt es noch viel schlimmer: Obama, schreibt er in der FAZ, "hatte eine weltpolitisch, ökonomisch und sozial katastrophale Situation für die Vereinigten Staaten geerbt. Sie hat sich nicht wesentlich verbessert."
Dath fährt derzeit durch Amerika und erzählt in der Zeitung dies und jenes. Zum Beispiel zitiert er eine Dame mit der Beobachtung:
"Wir Amerikaner sind doch ein Witz – als fortschrittliches Land. Da haben wir jetzt einen Arzt als schwarzen Präsidentschaftsaspiranten, der weder an die Evolution noch an den Klimawandel glaubt, aber der Mann hat einen Doktortitel, das gibt es doch sonst nirgendwo auf Erden."
Missing Link zwischen Dino und Säugetier
Dabei weiß doch nach diesem Sommer jeder, dass es den Klimawandel gibt, und das mit der Evolution ist klar, seit das Missing Link zwischen Dinosaurier und Säugetier entdeckt wurde: das Urmel. Tilmann Spreckelsen ordnet es in der FAZ anlässlich des Todes von Max Kruse zeithistorisch ein:
"'Es war vor vielen Millionen Jahren', so hebt das an, und als Kinderbuchautor musste man sich im bewegten Jahr 1968 solch einen ersten Satz erstmal trauen. Allzu schnell konnte man unter dem Generalverdacht des Eskapismus stehen, wenn ein Werk nicht fest im Hier und Jetzt verwurzelt war. Die 'Urmel'-Fabel entstamme der 1968 noch ganz jungen Erfahrung, eine tiefgefrorene Forelle zum Auftauen aus dem Eisfach zu nehmen, bekannte Kruse viel später, und selten wird man den Ursprung eines modernen Märchens so tief im Geist der Technik wurzelnd entdecken."
Lothar Müller erklärt in der SÜDDEUTSCHEN:
"Es hat auch einen mediengeschichtlichen Ort: Der Ausgangsplot von 'Urmel aus dem Eis' erinnert frappierend an die Dinosaurier-Mythologie von Steven Spielberg. Aber der Erfolg der Urmel-Figur verdankt sich dem Zusammenspiel von Literatur, Marionettentheater und Fernsehen. Es ist, was die Evolutionsgeschichte der Medien angeht, die Hintergrundwelt auch der literarischen Nachbarn von Max Kruse, für Michael Ende und Lukas den Lokomotivführer, für den Pumuckl von Ellis Kaut, für den Räuber Hotzenplotz von Otfried Preußler."
Wieland Freund sieht das in der WELT auch so: Max Kruse, schreibt er, "ging als Werbetexter nach München,wo sich mit ihm, Michael Ende, Otfried Preußler und James Krüss so etwas wie die Gruppe 47 der Kinderliteratur fand."
Kant und die Flüchtlingskrise
"Wo die wilden Kerle wohnen", titelt die WELT außerdem und man meint, es geht gleich weiter mit Kinderbüchern, dann ist es aber doch eher so etwas wie das Gegenteil von einem Kinderbuch, nämlich der Versuch, Immanuel Kant mit Niklas Luhmann zu interpretieren, um unsere Herzen für Flüchtlinge zu erwärmen. Byung-Chul Han versucht eine derartige Exegese von Kants Schrift "Zum ewigen Frieden", was den Titelredakteur zur kessen Ankündigung verleitet hat:
"Was Immanuel Kant zur Flüchtlingsdebatte zu sagen hätte."
Es ist nicht ganz unkompliziert und kulminiert in dem Indikativ: "Ein Warenhaus ist kein Gasthaus" und in dem Konjunktiv:
"Die Flüchtlingskrise wäre für Deutschland sogar eine große historische Chance, sich der Welt als ein moralisch erwachsenes, zuverlässiges Land zu beweisen, in dem die Vernunft herrscht."
Vom schwindenden Wert alter Bücher
So etwas nennt man Utopie. Und weil die WELT ja eher ein Blatt für Realisten ist, hat die Redaktion direkt daneben eine "Dystopie" gesetzt, ausdrücklich als Textsortenbezeichnung für ein Stück von Tilman Krause, das der Schockerfahrung entsprang, dass er für seine einst teuer gekauften Franz-Hessel-Erstausgaben nur noch schlappe 20 Euro bekommt – wobei er uns vorenthält, warum er sie trotzdem weggeben hat. Wieder ein Stück Evolution, diesmal des Bildungsbürgertums:
"Alte Bücher verlieren nicht nur drastisch an Wert, sie werden für das bürgerliche Selbstverständnis künftig keine wichtige Rolle mehr spielen."
Der Titel der Krauseschen Dystopie bringt es auf den Punkt – und beschreibt, was vielleicht immer der Fall ist bei Evolutionssprüngen, eine Erfahrung, vor der das Urmel, so viel ist sicher, ganz anti-evolutionär allzeit gefeit sein wird, nämlich:
"Der Fetisch ist futsch."
Mehr zum Thema