Aus den Feuilletons

Philosophie des Stinkefingers

Verwirrung über den Stinkefinger von Yanis Varoufakis in der ARD-Sendung "Günther Jauch".
Yanis Varoufakis und sein Auftritt bei "Günther Jauch" beschäftigt weiter die deutschen Medien. © dpa / picture alliance / I&U TV Produktion GmbH & Co. KG
Von Hans von Trotha · 19.03.2015
Der Video-Fake von Jan Böhmermann über den Stinkefinger des griechischen Finanzministers Varoufakis dominieren die Feuilletons. Die "taz" bekam von den Verwirrungen Kopfschmerzen - und die "Welt" sah darin sogar ein Lehrstück in politischer Philosophie.
Kein ganz leichter Tag für Feuilletonleser: In gleich zwei wichtigen Fragen wird uns beschieden, dass sie nie aufzuklären sein werden. Und – so sind sie im Feuilleton: Wenn sie keine Erklärung haben, erklären sie uns, dass es nicht schlimm ist, wenn es keine Erklärung gibt. Es geht darum, ob William Shakespeare gelebt und ob Yannis Varoufakis seinen Mittelfinger exponiert zur Schau gestellt hat.
Im Fall Shakespeare gilt immerhin als sicher, dass er tot ist - egal, ob er gelebt hat oder nicht. Der Theaterregisseur Peter Brooke will natürlich, dass er gelebt hat. Der TAGESSPIEGEL schenkt Brooke zum 90. Geburtstag die erste Feuilletonseite, und der nutzt sie für einen flammenden Appell: "Shakespeare war kein Strohmann".
"Er war", das ist Brookes schönster Satz über den Dramatiker, wenn auch kein echter Beweis für dessen Existenz, "wie Mozart. Wenn man etwas dringend von ihm benötigte, griff er sofort auf das gesamte Material zurück, das in ihm vibrierte".
Brookes Fazit lautet:
"Es gibt in der Tat Lücken und Löcher in allem, was wir über Shakespeare wissen, aber es gibt ebenso viele oder mehr bei jedem der anderen Prätendenten. Kurzum: Es wird immer ein Rätsel bleiben. Ein Mysterium. Gibt es eine bessere Grabinschrift für den Autor von 'Hamlet'?"
Brooke zitiert einen Bewohner einer islamischen Ex-Sowjetrepublik mit der folgenden bemerkenswerten Argumentation:
"In unserer Sprache bedeutet Shake Scheich, und Pir bedeutet weiser Mann. Für uns besteht kein Zweifel – mit den Jahren haben wir gelernt, versteckte Botschaften zu deuten. Diese ist eindeutig."
Die Videomontage lässt einen zweifeln - an allem
Als eindeutig galt es bislang auch, wenn einer den mittleren Finger isoliert gereckt hat. Bis das der griechische Finanzminister tat. Oder auch nicht. Das ist das Thema des Tages. Paul Wrusch gelingt in der TAZ die knappste Zusammenfassung:
"Tagelang empört sich Deutschland über einen griechischen Mittelfinger. Dann gibt Jan Böhmermann die Videofälschung zu. Das soll wiederum Satire sein. Was denn nun?"
Wrusch wünscht sich Aspirin: "Man bekommt Kopfschmerzen. Zweifelt plötzlich an allem. Fake? Oder Fake eines Fakes?" Wruschs Fazit, wen wundert's:
"Letztlich ist es aber egal, welche Version stimmt. Die Wahrheit ist nicht immer relevant, auch wenn das gerade für Medienmenschen schwer auszuhalten ist."
Unter dem Titel "Fingerübung" verwirrt uns Ralf Wiegand in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vollends mit der Behauptung, es sei "klar, was Böhmermanns Leute tatsächlich gemacht haben: Sie haben die Geste nicht hinein-, sondern herausgezaubert aus dem Film". Denn – das Argument kennen wir jetzt schon:
"Wenn Bilder so symbolhaft und gleichzeitig so zweifelhaft sein können, spielt die Echtheit keine Rolle mehr."
Kapitalismus, der über Zeichen geht
Unter der Überschrift "Über Zeichen gehen" dreht Srecko Horvat, Philosoph und Direktor des Subversive Festival in Zagreb, ebenfalls in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG den Gedanken weiter – so nennen das Journalisten gern:
"Wir sehen uns hier mit einer neuen Form des Kapitalismus konfrontiert, die am besten als 'Semio-Kapitalismus' beschrieben werden könnte. Das ist ein Kapitalismus, der durch die Akkumulation und Interpretation von Zeichen funktioniert."
Wer nun meint, das sei harmlos, hat die Zeichen nicht verstanden, weder die der Zeit, noch die des Kapitalismus und schon gar nicht die des Subversive Festival: "Wenn man", so Horvat, "aus dem Finger-Skandal eine Lektion lernen kann, dann die folgende: Zeichen sind Waffen; jeder Kampf ist auch ein semantischer, das heißt ein Kampf um die Deutungshoheit von Zeichen".
Andreas Rosenfelder dreht noch weiter, er erklärt die Affäre - genauer: seine Sicht darauf - zum "Crashkurs in politischer Philosophie".
"Für ein paar Stunden", schreibt er in der WELT, "war Jan Böhmermann kein Fernsehjournalist, sondern ein Mann, der über Sein und Nichtsein entschied, der seine Hand verbotenerweise am ontologischen Grundschalter hatte – oder doch mindestens an jener imaginären Kurbel, mit der man den Mittelfinger schon auf dem Schulhof ausfuhr, um ihn danach wieder langsam einzuklappen. Dieser Eingriff in die Realität hat allen den Kopf verdreht, vor allem aber jenen, die bisher dachten, Tatsache sei das, was bei Jauch als Einspieler läuft oder in der Zeitung steht."
Oder was man so im Radio hört.
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