Aus den Feuilletons

Imperativ im Rollstuhl

Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) am 28.8.2012 im Münchner Volkstheater
Altkanzler Helmut Schmidt (SPD) am 28.8.2012 im Münchner Volkstheater © dpa / picture alliance / Peter Kneffel
Von Tobias Wenzel · 10.11.2015
Die ersten Schriftsteller äußern sich zum Tod von Helmut Schmidt. Adolf Muschg zieht einen Vergleich mit Napoleon, Katja Lange-Müller lobt Verstand und Vernunft des Altkanzlers.
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen."
Und:
"Die Dummheit von Regierungen sollte niemals unterschätzt werden."
Die Schriftstellerin Katja Lange-Müller zitiert diese beiden Sprüche des nun gestorbenen Alt-Kanzlers Helmut Schmidt. In der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG schreibt Lange-Müller:
"Sätze wie diese stehen in keinem Poesiealbum, nicht einmal in einer Aphorismensammlung, und dennoch machen sie deutlich, was das Volk an der ‚Schmidt-Schnauze' so mochte: seine Vernunft und seinen Verstand."
Insgesamt vier Schriftsteller ziehen in der NZZ den Hut vor Helmut Schmidt. Auch der Schweizer Autor Adolf Muschg. "Wenn Hegel in Napoleon die 'Weltseele zu Pferde' gesehen hat, war für mich Helmut Schmidt der kategorische Imperativ im Rollstuhl", schreibt Muschg und zitiert Kants kategorischen Imperativ:
"Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden sollte."
Fehlende Distanz zum Fußball-Bund
Einige Mitarbeiter beim DFB haben wohl nicht immer so gehandelt. "Bis zum vollständigen Beweis der These, dass es bei der Akquise des später so genannten 'Sommermärchens' nicht ganz koscher zuging, fehlt nicht viel", schreibt Michael Hanfeld in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG und erwähnt zwei Journalisten, die gegen die Enthüllungen und Mutmaßungen des SPIEGEL geschossen haben und das, obwohl ihnen die beruflich gebotene Distanz zu Akteuren des DFB fehlt.
Gemeint sind "Sport Bild"-Chefredakteur Alfred Draxler und "Focus"-Gründer Helmut Markwort. Rückwirkende Peinlichkeit müssten nicht nur diese beiden Herren verspüren, sondern auch, so Hanfeld, der Chefredakteur des Hessischen Rundfunks, Alois Theisen. Am 3. November habe der in einem Kommentar für die "Tagesthemen" dem DFB mit folgenden Worten "einen Persilschein" ausgestellt:
"Das Sommermärchen kann Deutschland niemand mehr nehmen. In diesem Sinne waren die 6,7 Millionen Euro gut angelegt und jeden Cent wert. Von mir aus gibt es dafür mildernde Umstände."
Nur sechs Tage später habe sich Theisen dann im ARD-"Brennpunkt" zum DFB-Skandal plötzlich als "Großinquisitor" präsentiert. "Theisen sollte sich also nicht wundern, wenn man ihn fortan für einen Märchenerzähler hält", urteil Michael Hanfeld abschließend in der FAZ.
War das "Sommermärchen" ein Albtraum?
"Dabei stimmen Märchen nie", schreibt Andreas Rüttenauer in der TAZ. Unabhängig von der Frage, ob die WM 2006 gekauft wurde oder nicht, behauptet er:
"Das Sommermärchen war in Wahrheit ein veritabler Albtraum."
Er zitiert aus einer von Erziehungswissenschaftlern erhobenen Langzeitstudie namens "Deutsche Zustände". Demnach sei es rund um diese WM "zu einer Zunahme ‚gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit' gekommen". Fazit des TAZ-Autors:
"Dass heute sorgenvolle Pegidisten ganz unverkrampft neben Nazi-Kadern stehen und 'Wir sind das Volk!' in den Abendhimmel grölen, hat eine Vorgeschichte. Ohne die Jubelberichte über das tolle Deutschland und seine tollen Deutschen mit diesen tollen deutschen Fahnen, die das Land während der WM 2006 überschwemmten, würde heute vielleicht nicht ganz so ungeniert gedeutschtümelt."
"Über Tote ja nie Schlechtes, aber man darf vermuten, dass es eine Fülle von klassischen Linken gibt, die in ihm den Verräter ihrer Welt sahen und nun recht froh sind, dass von ihm kein Ärger mehr zu gewärtigen ist", schreibt, ebenfalls in der TAZ, Jan Feddersen zum Tod des französischen Intellektuellen André Glucksmann, der vom Kommunisten zum scharfen Kommunismus- und Ideologie-Kritiker wurde.
"Doch erst im Rückblick stilisierte sich Glucksmann zu dem unabhängigen Geist, der er immer schon gewesen sein wollte", bemerkte Gregor Dotzauer im TAGESSPIEGEL in einem ungewöhnlich kritischen Nachruf. Man habe Glucksmann oft als "eitlen Selbstdarsteller" abgestempelt, schreibt Richard Herzinger in der WELT und widerspricht sofort: "Ich habe nie einen bescheideneren und gütigeren Menschen getroffen als ihn."
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