Aus den Feuilletons

Gedränge auf dem Grünen Hügel

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Ehemann Joachim Sauer am 25.07.2015 in der Pause während der Eröffnung der 104. Bayreuther Festspiele in Bayreuth (Bayern). Die Richard-Wagner-Festspiele dauern bis zum 28. August.
Die Bundeskanzlerin und ihr Ehemann in der Pause während der Eröffnung der 104. Bayreuther Festspiele in Bayreuth. © picture-alliance / dpa / Tobias Hase
Von Arno Orzessek · 01.08.2015
Der Auftakt zu den Wagner-Festspielen war Thema Nummer eins der vergangenen Feuilleton-Woche. Während in der "Zeit" die Details im Bayreuther Rummel skizziert wurden, zog die "NZZ" bei der musikalischen Bewertung von Thielemanns "Tristan" alle Register.
Mögen Sie Städte-Reisen, liebe Hörer? Schauen Sie in diesem Augenblick womöglich aus Ihrem Hotelfenster auf ein perfektes Postkarten-Panorama, während Ihr Tablet Radio spielt?
Abgesang auf den Städtetourismus
Schön für Sie! Denn wenn Sie tatsächlich unterwegs sind, dürften Sie Dirk Schümers Abrechnung mit Ihrer bevorzugten Reise-Weise kaum zur Kenntnis genommen haben.
Unter dem höhnischen Titel "Tod in Selfietown" – der erkennbar auf Thomas Manns "Tod in Venedig" anspielte – befand Schümer in der Tageszeitung DIE WELT:
"Venedig und Prag, Amsterdam und Lissabon – also gerade die emblematischen Orte der europäischen Kultur – sind in ihrem Kern bereits touristische Shoppingmalls. Zwischen restaurierten Brücken, Kanälen und Kirchen ballen sich Fast-Food- und Krimskramsbuden, nurmehr von Zuwanderern und Pendlern betrieben. Und Großgruppen, die durch die Kulissen stampfen wie die Gnus durch die Savanne, fotografieren wahllos im Vorbeigehen. Das ist in den Augen der Welt das Bild des künftigen Europas: eine Ruinenkultur mit leergeräumten Selfietowns."
So weit Dirk Schümers Stadttouristen-Bashing in der WELT. Wir selbst können in diesem Punkt kaum mitreden ...
Und umso weniger, als uns unsere jüngste Reise über Tausende gebirgige Motorradkilometer zum Tauchen auf ein abseitiges Mittelmeer-Eiland geführt hat.
Kein Selfie, nirgends!
Die Kanzlerin im türkisfarbenen Kostüm
Alle Sommer wieder dicht gedrängt findet sich das Publikum auch auf Bayreuths Grünem Hügel zu den Wagner-Festspielen ein – dem Thema Nummer eins der vergangenen Feuilleton-Woche.
"Welches Auto der Dirigent (Christian Thielemann) fährt, welcher Handtasche die Regisseurin (Katharina Wagner) ihre Zigaretten entnimmt, das alles scheint wichtig zu sein in Bayreuth, und das türkisfarbene Kostüm der Bundeskanzlerin sowieso. Es ist doppeltes Theater, was da allsommerlich zur Eröffnung gespielt wird. Drinnen Richard Wagner und draußen der Rummel",
skizzierte der ZEIT-Autor Volker Hagedorn die Lage auf dem Hügel während der Premiere der Neuproduktion von "Tristan und Isolde".
Christian Wildhagen dagegen achtete Äußerlichkeiten gering und zog in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG zum Lob des Dirigenten alle Register seiner Kennerschaft.
"Thielemanns 'Tristan'-Deutung hat sich seit seinen frühen Hamburger und Berliner Dirigaten in den neunziger Jahren entschieden weiterentwickelt: Die Tempi sind, namentlich im ersten Akt, ungemein fließend geworden, auch die Agogik wirkt organischer, der hörbar bis ins feinste Detail durchgearbeitete Orchesterpart klingt trotz der im Bayreuther Graben notwendigen dynamischen Aktzentuierungen luzide, warm und ungewöhnlich transparent."
Musikexperten mögen entscheiden, ob die "fließenden Tempi" und die "organische Agogik", die der NZZ-Autor Wildhagen erwähnt, eine eitle Redundanz sind oder nicht.
Wir aber blättern die TAGESZEITUNG auf, die Katharina Wagner aufs Korn nahm.
"(Sie) hat das Werk in einen existenziellen Raum der Sinnlosigkeit entführt, in dem es kaum noch zu erkennen ist. Vor allem die Musik widerspricht dem beharrlich mit ihrer rauschhaften Feier der sexuellen Leidenschaft, in der Tristan und Isolde nicht nur Opfer sind, sondern auch Helden der Befreiung von Konvention und Wohlanständigkeit. Nun sind sie gefangen im Labor einer Regie, die ihnen nicht guttut",
moserte TAZ-Autor Niklaus Hablützel.
Festspielzeit auch in Salzburg
Sommerzeit ist Festspielzeit – auch in Salzburg: Wo Stephan Kimmig Goethes "Clavigo" inszenierte.
Abscheulich fand's Gerhard Stadelmaier in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:
"An diesem kleinen großen Stück hat sich die inhumane Unlust und Schnoddrigkeit, die Verhunzungsenergie, die dumm-assoziative Beflissenheit dessen, was einem gerade durch die Regie-Rübe rauscht, immer schon gerne ausgetobt. Den Gipfel dieser öden, unsäglich langweilenden, unterirdisch verblödelten Tobsüchtigkeit und Rübenrauscherei hat man aber erst jetzt im Salzburger Landestheater erlebt."
Ausgerastet wie eh und je: Gerhard "Es-ist-mal-wieder-zum-Kotzen" Stadelmaier. –
Ein populärer Grieche wurde 90
Liebevoller gingen die Feuilletons mit Mikis Theodorakis um, dem griechischen Schriftsteller, Politiker und Komponisten nicht zuletzt der Filmmusik zu "Alexis Sorbas".
"Das Herz schlägt links", stellten Kardiologen vom Berliner TAGESSPIEGEL an Theodorakis 90. Geburtstag fest.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG aber billigte ihm den "Klang der Unantastbarkeit" zu und erklärte:
"(Die) klischeebehaftete Popularität mag Theodorakis mittlerweile hassen, aber er hat sich trotz seines Musikstudiums in Paris eben nie auf die Moderne eingelassen. Der zutiefst poetisch empfindende Theodorakis will eben immer möglichst alle Menschen ansprechen, er hasst deshalb jedes elitäre Gehabe. Das wird auf jeder Seite seiner Autobiografie spürbar, die sich ansonsten so fantastisch liest wie ein Roman des magischen Realisten Gabriel Garcia Márquez",
verbeugten sie die SZ-Autoren Reinhard Brembeck und Christiane Schlötzer.
Neues Buch von Varufakis-Superstar
Auf seine Weise fantastisch ist auch Yanis Varoufakis, der Ex-Finanzminister seines Landes, mittlerweile vor allem als Superstar gefragt.
In der TAZ rezensierte Ulrike Hermann Varoufakis neues Buch – "Time for Change. Wie ich meiner Tochter die Wirtschaft erkläre" –, und wie es scheint, ist die Tochter zu bedauern:
"Varoufakis (so Hermann) weiß über die Wirtschaftsgeschichte derart wenig, dass er unbesehen ein antisemitisches Stereotyp reproduziert. So schreibt er, dass es 'kein Zufall' gewesen sei, dass im 16. Jahrhundert 'die neu gegründeten Banken Juden gehörten – da im Gegensatz zum Christentum und Islam die jüdische Religion die einzige war, die die Verzinsung von Geld nicht verbot'. Offenbar hat Varoufakis noch nicht von den Medici in Florenz gehört. Diese guten Katholiken hatten schon ab dem 14. Jahrhundert ein europaweites Bankimperium aufgebaut und nahmen selbstverständlich Zinsen. Das christliche Zinsverbot existierte nur auf dem Papier."
So TAZ-Autorin Hermann über die Wissenslücke des smarten Yanis Varoufakis.
Okay, das war's. Vielleicht tun Sie es uns gleich, liebe Hörer, und probieren an diesem Sonntag jene philosophische Bewegungsart aus, die in der SZ Überschrift wurde – nämlich:
Das "Tänzeln durch menschlichen Makel".
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