Der Gänsehauteffekt von Literatur

Die "FAZ" berichtet, wie das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik Leser an allerlei Messgeräte anschließt, um beispielsweise Rhythmusabweichungen bei unterschiedlichem Versmaß festzustellen. Die "ZEIT" hingegen schwelgt mit den Berliner Philharmonikern im Beethoven-Rausch.
"Oft ist das Denken schwer, indes
das Schreiben geht auch ohne es"
das Schreiben geht auch ohne es"
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG zitiert Wilhelm Busch zum Problem der ausufernden Textvermehrung unserer Tage.
"Es wird einfach so viel veröffentlicht, dass die Zahl der Sätze die der Gedanken notwendig übersteigt."
Das ist wahrscheinlich immer schon so gewesen und wird ganz sicher immer so sein – trotzdem Chapeau, das zu Buchmessezeiten loszulassen, wo man sich angesichts tausender Neuerscheinungen wohl nicht nur fragt: Wer soll das alles lesen? Sondern beim Allermeisten: Warum sollte man?
Die Glosse in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG nimmt sich aber vor allem einen neuen Erkenntnisfang in den Geisteswissenschaften vor. Das Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik schließt Leser an allerlei Messgeräte an und ermittelt Blutdruck, Hautoberflächenspannung, das Hüpfen des Herzens bei unterschiedlichem Versmaß, kurz – den Gänsehauteffekt von Literatur.
"Nimmt man noch einen Hirnscanner hinzu, so erhält man viele, viele bunte Karten von dem, was dann als Versabweichungserkennungszentrum oder Rhythmusregion angesprochen werden könnte."
Herzlichen Dank. Für das Wort Versabweichungserkennungszentrum.
Ein Beethovenfest ist wie ein Sieg in der Dortmunder Südkurve
Die Rhythmusregion kann man derzeit jenseits aller Messgeräte und zutiefst unmittelbar in Berlin erleben. Simon Rattle und die Berliner Philharmonikern erkunden dort alle Beethovensinfonien als Zyklus, the Mount Everst oft he classical repertoire, wie Rattle es "halb ehrfürchtig, halb süffisant" formuliert. Die Philharmonie seit Wochen ausverkauft bis unters Dach und erfüllt von einem stürmisch-revoluzzernden Beethoven-Klang, der den Klassikheroen immer noch als den im Zweifel jugendlichsten aller Komponisten ausweist.
Christine Lemke-Matwey lässt uns in der ZEIT an ihrem Beethoven-Konzerttagebuch teilhaben und meint, für die Philharmoniker sei jeder Beethoven-Zyklus ein Lackmustest:
"Wo steht das Orchester technisch, mental, geistig? Welche musikalischen Durchdringungskräfte mag es freisetzen, wie viel Inspiration?"
Ihr Fazit: Lackmustest nicht nur einfach bestanden – die Musiker "überbieten sich selbst". Die Pressebeschauerin, die das Glück hatte, an zwei Tagen selbst dabei zu sein, macht sich das Fazit der ZEIT-Kollegin gern zu eigen samt der Überschrift "An den Grenzen des Wahnsinns" – da müssen Künstler doch sein.
Wer erlebt, wie modern Beethoven klingt, wenn seine Musik wie auf Messers Schneide rasant bis an den Rand des Absturzes getrieben wird, wie ein Publikum jeden Alters diese Konzerte teilweise feiert, als sei man bei Borussia Dortmund auf der Südtribüne und Borussia gewinnt - der muss sich um die Wirkmächtigkeit von klassischer Musik im 21. Jahrhundert keine Sorgen machen.
An diesem Donnerstag gibt’s übrigens Liveübertragung des Konzerts der Berliner Philharmoniker in viele deutsche Kinos, Programm machen Beethovens Sinfonien Nr. 4 und 7, könnte so spannend werden, dass keiner mehr an Popcorn denkt.
Das Buchpreisträgerbuch ist ausverkauft
Man muss eben mit der Kunst direkt zu den Leuten gehen – das denkt sich ja auch die Buchmesse, wenn sie ihre Auszeichnungen verleiht: Der Buchpreis etwa entpuppt sich als "wirtschaftlicher Superbeschleuniger". Der Siegerroman von Frank Witzel mit dem Titel, den sich kein Mensch merken kann, weshalb der Autor selbst ihn auf Die Erfindung verknappt – dieser Siegertitel ist derzeit nicht mehr lieferbar. Erst nächste Woche kommt eine neue Auflage heraus.
Bei Amazon ist das Buch blitzschnell auf Platz 6 hochgeklettert und liegt nur knapp hinter Daniela Katzenbergers Eine Tussi wird Mama. Ob der neue Buchpreisträger Frank Witzel darüber lachen mag? Wahrscheinlich ist er dazu zu müde. Rund 25 Interviews hat er in den letzten 24 Stunden gegeben, eines auch der BERLINER ZEITUNG. Den Erfolg hat er immer noch nicht recht kapiert, dass alle sich um ihn kümmern, auch damit er im Buchmessenstress nicht zusammenklappt, das findet er rührend, und dass er in Offenbach wohnt, sei praktisch.
"Da bin ich mir hundertprozentig sicher, dass ich weiter unerkannt bleibe…"
Liebe Offenbacher, machen Sie ihm doch einen Strich durch die Rechnung, grüßen Sie Frank Witzel freundlich! Aber gehen Sie dann weiter und machen Sie ihm keinen Stress. Er freut sich drauf, ein neues Buch zu schreiben!