Aus den Feuilletons

Allgemeine Eigenschaften aber nur ein Axiom

Von Arno Orzessek  · 11.01.2014
Die "taz" hat das Wesen des Deutschen erkannt und schreibt darüber. Die "SZ" ebenso. Aber beide kommen zu unterschiedlichen Ergebnissen, während die "Welt" den deutschen Soldaten ein wenig genauer unter die Lupe nimmt. Und wie fast alle hat sich die "Zeit" Haruki Murakami genauer vorgenommen. Aber nur eine Zeitung kümmert sich um das "Reduzibilitätsaxiom".
Zunächst zur Lage der Nation und dem Zustand der deutschen Seele.
Im Grunde ist klar, dass jede These zu derart komplexen Themen kaum richtiger sein kann als die Behauptung des Gegenteils.
Trotzdem legte sich der Psychologe Stephan Grünewald in der TAGESZEITUNG bombenfest:
"[Deutsche] Sind Ewigsuchende, Ewigzweifelnde, Ewigträumende. Dieser innere Hader führt zur German Angst. Anderseits ist dieses Hadern, Grübeln und Umträumen auch die Quelle unserer Schöpferkraft - Deutsche hinterfragen immer alles, lassen nichts einfach so stehen, verstehen die Welt nicht als gegeben. Doch das Schöpferische scheint mir momentan lahm gelegt. Wir dynamisieren das Hamsterrad, wir arbeiten oder konsumieren bis zur Erschöpfung."
Als Liebhaber gediegener Vorläufigkeit und dynamischen Müßiggangs fallen wir selbst übrigens komplett durch Stephan Grünewalds Kollektivraster.
Aber das nur nebenbei.
Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG spekulierte nicht über den Deutschen an sich, untersuchte aber den hiesigen Hobby-Handwerker als symptomatischen Zeitgenossen ...
Und unterstrich die Eminenz des Themas durch Bilder: Auf der SZ-Titelseite prangte eine altmodische Ansammlung abgenutzter Werkzeuge, auf Feuilleton-Seite 1 eine Ansammlung von Schrauben und Nägeln - hübsch sortiert und von jener verlässlichen Griffigkeit, die das digitale Zeitalter tatsächlich so nicht anbietet.
Unter der Parole "Ich schraube, also bin ich" porträtierte Gerhard Matzig die Heldenfigur der Do-it-yourself-Bewegung:
"Es ist der Schrauber. Der Typ aus Analogien."
Erwartungsgemäß wollte SZ-Autor Matzig darauf hinaus, dass in uns allen ein Schrauber steckt.
"Je weniger wir die Dinge um uns herum begreifen als die technoiden Black Boxes, die sie sind, desto mehr sehnen wir uns zurück in vermeintlich bessere Zeiten. Vor der Maschinen-Herrschaft der Industrialisierung war das die biedermeierlich-romantische Sehnsucht nach der agrarisch geprägten Gesellschaft; jetzt, im Neo-Biedermeier, ist es die Sehnsucht nach der mechanisch geprägten Ära. Was denen einen Erdkrume, Scholle und Sofa war - ist uns die Schraube und das Repair Café: [nämlich] Zuflucht." -
Vor einhundert Jahren zogen die Deutschen nicht in den Hobby-Keller, sie zogen in den Krieg - zum Schießen und zum Sterben.
Anlass genug für Thomas Weber, in der Tageszeitung DIE WELT darzulegen, dass viele, die bewaffnet auszogen, keine nationalistischen Monster waren:
"Wir sollten auch unsere eigenen Toten betrauern und ehren, ohne sie deshalb als Helden zu glorifizieren. [ ... ] Soldaten fühlten sich damals oftmals sowohl mit den gegnerischen Soldaten als auch mit der 'feindlichen‘ Zivilbevölkerung verbunden. Selbst im Schrecken des Krieges waren auch die Deutschen noch Europäer."
Eine Soldaten-Ehrung wie die von WELT-Autor Weber hätte vor zwanzig Jahren wohl noch den Aufruhr der Linken hervorgerufen.
Mittlerweile hat sich allerdings herumgesprochen, dass Schwarz-Weiß-Malerei dem mörderischen Kuddelmuddel des Ersten Weltkriegs nicht gerecht wird.
Nicht das deutsche - das jüdische Volk ist das Thema von Shlomo Sand. Allerdings bestritt der israelische Historiker in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG die Existenz dieses Volkes.
"Es gibt keine säkulare jüdische Kultur, die mich als Juden aus Israel mit einem Rabbi in Brooklyn verbindet - beispielsweise. Ein Jude in Bulgarien drückt sich nicht in der gleichen Sprache aus wie ich [ ... ]. Wenn ich bestreite, dass es ein jüdisches Volk gibt, dann bestreite ich natürlich nicht, dass es ein israelisches Volk gibt, welches ein Existenzrecht besitzt. Ich denke aber nicht, dass dieses Land auch einem Rabbi in Brooklyn gehört."
Shlomo Sand wird angefeindet, auch hierzulande ...
Gefeiert hingegen wurde der japanische Schriftsteller Haruki Murakami, der an diesem Sonntag 65 Jahre alt wird.
In der Wochenzeitung DIE ZEIT erklärte Murakami:
"Ich bin nicht religiös. Ich glaube nur an die Vorstellungskraft. Und daran, dass es nicht nur eine Realität gibt. Die wirkliche Welt und eine andere, irreale Welt bestehen zugleich, sie hängen ganz eng miteinander zusammen. Manchmal vermischen sie sich. Und wenn ich es will [ ... ], kann ich die Seiten wechseln. Ich kann kommen und gehen. Das passiert in meiner Literatur."
So Murakami.
"Das ist alles hart an der Grenze zum esoterischen Quatsch."
So Gregor Dotzauer, der im Berliner TAGESSPIEGEL anlässlich des Erscheinens von "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki" das gesamte Roman-Werk Murakamis würdigte - und durchaus auch Löbliches fand:
"Im besten Fall entstehen Passagen von halluzinatorischer Wirkung."
Esoterik, Halluzination, irreale Welten - sind wir darüber nicht qua Wissenschaft hinaus?
Eher nicht - sofern man Marco Wehr folgt.
Unter der Überschrift "Die Kompetenzillusion" rechnete der Physiker und Philosoph in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG mit dem "Orakelgekrakel" vor allem jener Wissenschaftler ab, die meinen, anhand von Modell-Rechnungen die Politik beraten zu müssen.
Den Ökonomen trat Wehr mit Schmackes vors Schienenbein:
"Affen, die mit Dartpfeilen auf Aktien werfen, erzielen mit ihrem Portfolio meistens eine bessere Performance als hochbezahlte Analysten bei den Banken, denen es fast nie gelingt, langfristig den Index zu schlagen."
Selbstverständlich wäre Marco Wehr kein FAZ-Autor, wenn er nicht auch seriöser argumentieren könnte. Etwa so:
"Nur dadurch, dass sich die Welt im Modell reduzieren lässt, gelingt es dem [ ... ] Computer, dem Gang der Dinge vorauszueilen, da in diesem Fall die Simulationszeit kürzer sein kann als die Realzeit. Hätten Modell und Wirklichkeit dieselbe Komplexität, wäre das unmöglich. Leider wird die Frage nach der Reduzibilität eines Problems im Allgemeinen weder gestellt noch beantwortet. [ ... ] Was wäre aber, wenn das 'Reduzibilitätsaxiom‘ keine evidente Wahrheit ist, sondern nur ein Glaubenssatz? Dann bestünde die Gefahr, dass das, was wir heute mit gigantischem Aufwand zu berechnen versuchen, überhaupt nicht berechenbar ist." -
Liebe Hörer, obwohl das Reduzibilitätsaxiom wichtig ist, soll es hier nicht unser letztes Wort sein.
Stattdessen blicken wir aus dem Fenster hinaus, hören die Meisen singen und seufzen mit der SZ: "Dann eben kein Winter."
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