Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus

Die Politik schweigt - das ist Verdrängung!

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Eine Rückansicht Angela Merkels vor schwarzem Hintergrund.
Die Politik muss sich endlich um die Aufarbeitung des Kolonialismus kümmern, fordert der Historiker Jürgen Zimmerer. © imago / Florian Gaertner
Ein Weckruf von Jürgen Zimmerer · 24.01.2020
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Die koloniale Amnesie lichtet sich: Über den deutschen Kolonialismus wird endlich geredet. Doch geschieht dies vor allem in Museen, auf Podien, in den Feuilletons. Die Politik hält sich zurück. Ein Skandal, meint der Historiker Jürgen Zimmerer.
2019 gab es zwei bedeutende Jahrestage der Kolonialgeschichte: Die 135. Wiederkehr des Beginns der Berliner Afrika- oder "Kongo"-Konferenz am 15. November. Sie steht global für die Aufteilung Afrikas. Und der 100. Jahrestag des formalen Endes des deutschen Kolonialreiches mit dem Frieden von Versailles am 11. November.
Beides sind Daten von erheblicher symbolischer Bedeutung. Im öffentlichen, insbesondere im politischen Diskurs, blieben sie letztes Jahr weitgehend unbeachtet.

Die Kultur diskutiert - die Politik schweigt

Dabei ist das Interesse am deutschen Kolonialismus derzeit größer als es dies seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jemals war. Die koloniale Amnesie, die in Deutschland so lange herrschte, schwindet allmählich.
Die Debatte über den kolonialen Kern des Humboldt Forums in Berlin, die Frage nach kolonialer Raubkunst in deutschen Museen und auch der Streit über den nicht aufgearbeitete Genozid an den Herero und Nama sind Themen, die es immer wieder über die öffentliche Wahrnehmungsschwelle schaffen. Dennoch gibt es kein Wort des Bundespräsidenten oder der Kanzlerin zur Raubkunst, kein Wort zur Berliner Afrika-Konferenz. Kein Wort zum Genozid an den Herero und Nama.
Amnesie ist das nicht, das ist Verdrängung!

Die Kontinuität kolonialer Positionen

Dabei wäre heute eine kritische Auseinandersetzung mit Deutschlands kolonialem Erbe, das ja weit über die 30 Jahre formaler deutscher Kolonialherrschaft hinausreicht, notwendiger denn je. Sie wäre besonders notwendig in einem Deutschland, in dem wieder offen rassistische Positionen artikuliert und als politische Gestaltungsvorschläge diskutiert werden, in dem latent koloniale Positionen allerorten markiert werden können.
Eigentlich hatte die Große Koalition die Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit zum Regierungsziel erhoben, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik.
Allerdings scheint dabei sehr Widersprüchliches Hand in Hand zu gehen: In der politischen Rhetorik reklamiert man koloniale Aufarbeitung. In der Außen- und Sicherheitspolitik, in der Flüchtlings- und Klimapolitik bewegt man sich hingegen innerhalb kolonialer Vorstellungs- und Diskurskontinuitäten.

Auseinandersetzung wird an Gremien delegiert

Zwar gelang es in den letzten Jahren insbesondere zivilgesellschaftlichen Gruppen und der Wissenschaft eine Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe zu erzwingen. Allerdings, und das erweist sich nun als Hypothek, verschob die Politik die Frage kolonialer Aufarbeitung in den Bereich des Kulturellen und buchstäblich ins Ausland. Über einzelne Objekte wird ausführlich diskutiert, mit der ganzen Welt Museumsgespräche werden geführt.
Bundestagsdebatten zum Thema dauern dagegen nur 30 Minuten und finden spät abends statt.
Die breite politische und gesellschaftliche Auseinandersetzung über die Folgen des Kolonialismus, die kulturellen, sozialen, ökonomischen und Wissens soziologischen ist nicht gewollt. Man entsorgt sie in Gremien, Kommissionen und Förderzentren.

Unser Wohlstand beruht auf Ausbeutung

Über die Gründe kann man spekulieren: Ist es die generelle Entpolitisierung des Politischen in der Ära Merkel?
Oder ist es die Angst vor einem Querschnittsthema, das viele Fragen in einen Zusammenhang bringt? Fragen der Identität, des Rassismus, der globalen sozialen Ungleichheit, der Klimapolitik - Fragen der Geflüchtetenpolitik im Mittelmeer und Fragen der Entwicklungs- und Sicherheitspolitik. In einen Zusammenhang, in dem die Privilegien der weißen deutschen Mehrheitsgesellschaft allerdings noch privilegierter erscheinen. Wo offen zutage träte, auf welchen rassistischen und ausbeuterischen Grundlagen der Wohlstand Deutschlands, ja Europas, beruht, und dies nicht nur historisch.
Da ist man dann doch lieber dazu bereit, einzelne Stücke kolonialer Beutekunst zurückzugeben, als die grundsätzlichen Fragen der Zukunft anzugehen. Eine wirkliche Dekolonisation muss die Menschen in den Vordergrund rücken, nicht (nur) Objekte.

Jürgen Zimmerer ist Professor für Globalgeschichte mit Schwerpunkt Afrika an der Universität Hamburg und leitet die dortige Forschungsstelle "Hamburgs (post-)koloniales Erbe/Hamburg und die (frühe) Globalisierung

Jürgen Zimmerer - Afrika-Historiker und Genozid-Forscher an der Universität Hamburg. 
© privat
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