Von der Manege zum Trendsport in den Parks
23:35 Minuten
Im Zirkus werden körperliche Höchstleistungen vollbracht: Artisten sind Leistungssportler, die Kraft, Präzision und Koordination in Anmut verwandeln. Freizeitsportler tragen Artistik in den Park - "Slackline" oder "Aerial Silks" sind modern und hip.
Der Zuschauerraum ist dunkel, hell erleuchtet ist nur das Drahtseil in der Manege. Darauf mal eine Frau, mal ein Mann – anmutig, mit einer Körperhaltung, die sofort klar macht: All das, was nun folgt, ist bis ins kleinste Detail trainiert, auch wenn es fließend, weich, harmonisch, tänzerisch, ja fast spielerisch leicht aussieht.
"Hochseil", sagt der Laie – doch in der Welt von Zirkus und Varieté wird unterschieden, wie Mandy Wnuck von Lipinski erklärt: "Auf dem Hochseil läuft man gerade mit den Füßen und man stellt auch Leute übereinander, man nennt das auch Pyramidenlaufen." Das sei sehr verbreitet in Russland und Kolumbien. "Tanzseil, das ist so die französische Art, dass man eben verschiedene Tanzschritte auf dem Seil zeigt: kleinere und größere Sprünge, Akrobatik, Spagatrutschen, Knien und so weiter."
Staatliche Artistenschule in Berlin
Die Staatliche Artistenschule Berlin ist ein halbrunder Bau, dessen bespanntes Dach an die Planen eines Zirkuszeltes erinnert. Das Herzstück des Gebäudes ist eine große Trainingshalle. Hier gibt es alles, was das Artistenherz höherschlagen lässt: Requisiten jeglicher Spielart für all die Darbietungen, mit denen im Zirkus und im Varieté das Publikum verzaubert wird.
Mandy Wnuck von Lipniski ist von sportlicher Statur – drahtig, möchte man sagen. Sie ist hier Lehrerin. "Davor war ich 25 Jahre auf allen Bühnen dieser Welt unterwegs, als Artistin im Seiltanz, im Vertikalseil, in der Hand- und Kopfstandakrobatik."
In dem langen Flur vor der großen Trainingshalle hängen Schwarz-Weiß-Fotos an der Wand. Sie zeigen ehemalige Schülerinnen und Schüler auf Drahtseilen, Vertikaltüchern, beim Jonglieren am Trapez. Darunter sind auch einige, die als Lehrerinnen wieder an die Artistenschule zurückgekommen sind, so wie Mandy Wnuck von Lipinski.
Grundlagentraining ab der 5. Klasse
Seit rund zehn Jahren bringt sie dem Zirkusnachwuchs die Tricks und Kniffe bei, mit denen die Schülerinnen und Schüler das Publikum verzaubern werden. Schon mit zehn Jahren werden sie neben dem normalen Schulunterricht auf das vorbereitet, was da noch kommen mag. Die körperlichen Grundlagen für ein Leben in der Manege und auf der Bühne sollen geschaffen werden.
"Da fangen wir in der 5., 6. Klasse an", erläutert Mandy Wnuck von Lipinski. "Mit der 7. und 8. Klasse werden die Schüler dann aufs Seil gestellt und dürfen jonglieren, bekommen ein Trapez und lernen Handstände und natürlich, Flickflacks zu springen und Vorderbögen und so weiter. Und dann dürfen sie sich ab der 9. Klasse ein Requisit auswählen, das sie gerne mal ausprobieren möchten."
Das Schuljahr ist so gut wie vorbei, die Sommerferien stehen vor der Tür. Mandy Wnuck von Lipinski hat zwei Ihrer Schüler zum Sondertraining inklusive Interviews geladen. Einer von ihnen ist Maik Ortmann. Er ist groß, schlank, hat halblange Haare und ruht in sich.
"Maik, setz mal den Schleifschritt bitte." Ortmann setzt zwischen dem großen Zeh und den Zehen daneben den Fuß auf, lässt den Fuß so schleifen. "So beginnt man eigentlich, auf einem Seil zu arbeiten."
Das Seil ist in 1,5 Metern Höhe gespannt. Eine Höhe, in der Normalbürgern schon aus Angst vor einem Sturz das Gleichgewichtsgefühl abhandenkäme. Angst wäre hier fehl am Platz, Respekt vor dem Gerät und der Höhe nicht.
"Und ich habe eben den Schülern auch immer geraten: Was unter dem Seil ist, das hat euch nicht zu interessieren, denn der Abstand von den Augen zu den Füßen ist immer der Gleiche. Und man schaut wirklich auf das Ende des Seils, denn das ist der Punkt, wo ich hin möchte."
Vielfalt am Drahtseil
Maik Ortmann ist in einer Zirkusfamilie groß geworden, sein Herz hat schon immer für die Manege geschlagen und seit er den Seiltanz ausprobierte, auch dafür. "Natürlich kann man sich noch andere Dinge vorstellen, aber das Drahtseil ist auf jeden Fall das, was ich liebe", sagt er. "Ich finde an dem Drahtseil so gut, dass man verschiedene Kombinationen machen kann: Man kann mit dem Drahtseil tanzen, man kann auf dem Drahtseil tanzen; man kann verschiedene Arten des Tanzens am Drahtseil anwenden; man kann Akrobatik drauf machen. Also diese Vielfältigkeit fasziniert mich einfach."
Das Drahtseil kann so zum Tanzboden oder auch zum Tanzpartner werden, Aufgänge und Abgänge zu durchchoreografierten Elementen der Vorführung. Was in der Show dann luftig leicht aussieht, verlangt körperliche Fitness, Konzentration und starke Nerven.
"Man muss sich superviel konzentrieren, dass man nicht einmal daneben tritt, weil das Seil superdünn ist", erklärt der Schüler. "Und man darf auch nicht zu viel nachdenken. Man braucht Mut, um auf dem Drahtseil da oben neue Sprünge zu erfinden, neue Schritte zu machen. Also man soll sich die ganze Zeit konzentrieren, auf das Ende des Drahtseils schauen und einfach versuchen, da was Schönes und Spektakuläres hinzubekommen."
Leichtfüßig läuft er über das Seil, tanzt, gleitet und springt, rutscht in den Spagat steht wieder auf. "Das ist mein Ding, das macht mir Spaß. Damit möchte ich später die Personen begeistern, mein Publikum."
Bis dahin ist es noch sehr viel Training und ein weiter Weg, den Maik Ortmann aber zielstrebig über das Seil geht. "Im normalen Stundenplan haben wir so vier bis fünf Schulstunden Artistik am Tag und dann kommt noch Tanz dazu. Also in der Woche sind 22 Schulstunden nur Artistik."
Slackline zwischen zwei Bäumen
Körperliche Fitness ist für professionelle Artisten die Berufsgrundlage. Für Normalbürger ist sie das Ziel und oft der einzige Grund, überhaupt Sport zu treiben. Doch im Idealfall ist Fitness ein Nebeneffekt, wenn man nämlich seinen Sport gern macht und die Anstrengung im Spaß an der Bewegung untergeht.
Konzentration, Kraft, Koordination – all das wird im Sport angeregt. Und einige Trendsportarten, die stark an die gute, alte Zirkuskunst erinnern, sind geradezu prädestiniert dafür: Slacklinen zum Beispiel.
Der Aufbau einer Slackline ist einfach: Benötigt werden zwei Bäume, ein sogenannter Baumschutz, also eine Art Filzgürtel, der jeweils um den Baum gelegt wird, um die Rinde nicht zu beschädigen – das kann auch ein Teppichrest sein – und natürlich die Slackline selbst. Diese wird um einen Baum geschlungen und durch eine Schlaufe gezogen. Ihr Ende wird am anderen Baum durch eine Ratsche geführt, dann wird die Slackline gespannt.
"Je nachdem, wie stark man die spannt, schwingt die halt enorm", erklärt Stefan Kuhring. Auch die Länge spiele eine Rolle. "Das sind halt Bewegungen, die man ausgleichen muss, die man auf einem Drahtseil zum Beispiel nicht hat."
Ohne Baumschutz zu slacken, ist absolut tabu
Stefan Kuhring ist 1. Vorsitzender von Slackline Berlin e.V., einem der ältesten Slackline-Vereine Berlins. Mit einem eher symbolischen Jahresbeitrag ab 20 Euro ist es ein Verein, der nicht auf Wettkampf und Leistungssport ausgerichtet ist, sondern auf gemeinsamen Spaß an der Bewegung an der frischen Luft. Die Mitglieder sind ein Querschnitt der Gesellschaft: Studentinnen, Arbeitslose, Ärzte und Ingenieurinnen.
Bei jedem Sport im öffentlichen Raum gibt es Menschen, die Anstoß daran nehmen. Der Slackline-Verein will auch mit Kritikern ins Gespräch kommen und die Community dafür sensibilisieren, sorgsam mit der Natur und den Bedenken einiger Mitbürger umzugehen. Ohne Baumschutz zu slacken, ist zum Beispiel absolut tabu.
Jeder definiert sein Ziel selbst, und wie bei den Artisten auf dem Drahtseil geht es auch hier von den ersten Schritten immer weiter, der sportliche Ehrgeiz kommt nicht zu kurz.
Erste Schritte auf straffer Slackline
Die ersten Schritte beziehungsweise das erste Aufstehen macht man am besten auf einer eher straff gespannten Slackline – in Kniehöhe, und am besten hält man sich dabei an der Schulter eines Partners fest. Die Angst, von der Slackline zu fallen, ist so überschaubar. "Wenn man zu unsicher ist bei irgendeinem neuen Trick, sollte man sich einfach ein bisschen Unterstützung holen; dass einer da ist, der einen zur Not auffangen kann."
Selbst bei gut trainierten Menschen ist es nicht ungewöhnlich, dass bei den ersten Versuchen das Bein wie wild zu zittern beginnt. Der instabile Untergrund, dazu noch die mentale Herausforderung – das stellt den Körper vor neue Aufgaben. Beim Gehen, Stehen, Springen und natürlich auch bei jeglichem Balancetraining werden Impulse von den Füßen über die Nervenbahnen zum Gehirn beziehungsweise zum Rückenmark geleitet und dort verarbeitet.
Die neuromuskuläre Koordination, also das Zusammenspiel von Nerven und Muskeln, sorgt nun unter anderem dafür, dass auch Muskelfasern, die im Alltag durch zu viel Sitzen und zu wenig Bewegung vernachlässigt werden, aktiv werden. Das Wackeln hört dann schon bald auf und der Stand wird sicherer.
Regelmäßiges Slacklinen sei ein idealer Ausgleich zu einem bewegungsfeindlichen Alltag im Büro oder im Homeoffice, findet Florian, der vor einigen Jahren eher zufällig eine Slackline geschenkt bekam.
"Ich hab dann gemerkt, dass das auch was sehr Meditatives hat, was sehr Ausgleichendes. Und gleichzeitig ist es etwas, was sehr stark die Tiefenmuskulatur fördert, die tiefe Rückenmuskulatur. Als Arzt denke ich: Das ist ein guter Ausgleich zur Arbeit, zum Berufsalltag", sagt Florian. "Ich glaube, das kann durchaus jeder lernen. Das ist eher eine Sache der Tiefenmuskulatur, für die es anstrengend ist. Von der Kondition her ist es relativ entspannt."
Wettkampfsport Tricklinen
Das allerdings ist abhängig von der Slackline-Spielart, die man wählt, und den Fähigkeiten, die man sich darauf erarbeitet hat. Vom ersten Stehen und Gehen bis zu vorsichtigen Sprüngen oder waghalsiger Akrobatik – auf der "Trickline".
Die Mitglieder von Slackline Berlin treffen sich von April bis Oktober regelmäßig in verschiedenen Parks der Hauptstadt. Einer der Stammplätze ist in einem Park in Neukölln. Hier finden die Slackliner die idealen Bedingungen für die unterschiedlichen Ausprägungen ihres Sports. Besonders beliebt ist das Tricklinen – das seit einigen Jahren sogar Wettkampfsport ist.
In Stuttgart finden die "World Slackline Masters" statt: Ein Stelldichein der Elite der Frauen und Männer, die irgendwann meist aus Spaß in einem Park angefangen haben, auf Slacklines zu balancieren. Hier nun federn sie in die Luft, landen auf Gesäß oder Brust, schnellen wieder empor, vollführen Salti und Rotationen in jede Richtung – rasant, kraftvoll, hoch konzentriert.
"Die Jungs und Mädels schaffen es teilweise, bis zu fünf Meter über der Line zu sein", erklärt Robert Käding, "das heißt, sie fliegen bis zu sieben Meter hoch über dem Boden und schaffen mittlerweile dreifache Rotationen, also dreifache Salti auf diesen Dingern. Man muss natürlich ein gewisses Training haben, um auf dieses Niveau zu kommen."
Wurzeln im Klettern
Robert Käding ist einer der Chefs von Gibbon-Slacklines. Er ist der Mann, der auf die Idee kam, einen Trend zu professionalisieren, der in der Kletterszene schon Mitte der 1980er-Jahre existierte. Damals spannten Kletterer in teils aufwendigen Konstruktionen Bandschlingen oder Kletterseile zwischen Bäume, um an Regentagen oder als Tagesausklang nach schweren Kletterrouten, Spaß zu haben und ihr Gleichgewicht zu trainieren.
"Wir haben halt gemerkt, dass das technisch von der Konstruktion sehr anspruchsvoll ist, und haben das Ganze auf ein absolutes Minimum reduziert und es breiter gemacht."
Käding ist von Hause aus Produktentwickler. Er hatte den Einfall, Lkw-Spanngurte zu verwenden und diese so zu modifizieren, dass selbst Laien diese Gurte ohne viel Aufwand zwischen zwei Bäume spannen können – der Startschuss für eine stetig wachsende Szene.
Slackline kann relaxter Freizeitsport, Nervenkitzel in atemberaubender Höhe oder Hochleistungswettkampfsport mit eigener Sprache sein. "Wenn ich mit einem Japaner rede, der kein Englisch spricht, so versteht er doch, was ein 'Mojo-Flatspinn 7/20 to spiral to chess-bounce' ist. Und wenn ich sage, dass das leider mit einem 'Dab' war, dann weiß er, dass er es nicht sauber gemacht hat."
Flow auf der Slackline
Die Sprache der Slackliner erinnert an die Begrifflichkeit im Skateboard- und BMX-Sport. Die Tricks sind vielseitig, die Kombinationsmöglichkeiten unendlich. Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
"Es gibt statische Tricks, die sind eher darauf ausgelegt, dass man versucht, in eine bestimmte Pose zu kommen, also in eine Art Schneidersitz. Das nennt man dann Buddha. Da gibt es diverse Variationen, die man auch wieder miteinander verbinden kann, denn aus der einen Pose komme ich dann wieder in die nächste", erklärt Käding. "Das kann man schon fast mit Yoga vergleichen. Wichtig ist auch, dass ein gewisser Flow entsteht."
Besonders spektakulär für Zuschauer und Zuschauerinnen sind dynamische Tricks, die den Umstand nutzen, dass eine Slackline federt. Dieser Trampolineffekt macht waghalsige Sprünge und Drehungen möglich. Vom "Butt-Bounce" – Absprung von den Füßen, Landung auf dem Gesäß, hoch federn und wieder Landung auf den Füßen – bis zu Salti, Flickflacks und vielem mehr – alles mit entsprechenden Namen.
Ein "Fearless" zum Beispiel "ist ein Vorwärtssalto mit einer Überrotation, wo man dann auf der Brust landet", erklärt der Slackline-Pionier. "Da muss man einfach angstfrei sein", fügt er lachend hinzu.
Benotung mithilfe eines Computers
Bei offiziellen Wettbewerben werden die Rotationen, die Sprunghöhe, die Haltung, die Vielfältigkeit und die Kombinationen der gezeigten Tricks bewertet. Punktabzüge gibt es beispielsweise für Bodenkontakt und unkontrollierte Landungen am Ende.
Aufgrund der hohen Geschwindigkeiten nutzen die Punktrichter Computer: "Über eine Webcam wird das Ganze aufgenommen. Die kriegen das Ganze mit Leertaste, Start, Stopp auf einem Bildschirm wieder abgespielt und können dann per Tastenkombination die ganzen Tricks eingeben und am Ende kommt eine Punktezahl heraus."
Slackline ist aus der Trendsportszene nicht mehr wegzudenken. Die Professionalisierung hat dazu beigetragen, dass es dieser Sport aus den Parks auch in die Manege geschafft hat.
"Ja, da kommt der Zirkus tatsächlich wieder ins Spiel. Die Ironie der ganzen Geschichte ist, dass das Ganze unheimlich spektakulär geworden ist. Es gibt mittlerweile eine Handvoll Trickliner, die wirklich professionell nichts anderes mehr machen." Dadurch seien auch Zirkusproduktionen wie der Cirque du Soleil darauf aufmerksam geworden. "Und daraufhin sind natürlich die ganzen Kreuzfahrtschiffe darauf aufmerksam geworden und haben angefangen, wie wild die ganzen Trickliner zu buchen."
Käding ist gespannt, ob das auch bei seiner neuesten Idee so sein wird: dem "Giboard", einer Art Mini-Slackline fürs Wohnzimmer oder für unterwegs, die keine Bäume benötigt.
Meterlange Vertikaltücher
Während man Slacklines regelmäßig in den Parks überall auf der Welt sieht, sind "Vertikaltücher", auch "Aerial Silks" genannt, äußerst selten im öffentlichen Raum anzutreffen. Doch auch diese Varietédarbietung hat in der Trendsport- und Fitnesswelt Einzug gehalten und erfreut sich stetig wachsender Beliebtheit.
Von der Decke hängen in der Regel sechs bis neun Meter lange Tücher. Oft schälen sich die Artistinnen und Artisten zu Beginn ihrer Shows elegant aus diesen heraus, um dann behänd emporzuklettern. In luftiger Höhe beginnt alsbald ein Tanz in der Vertikalen.
Wie schwerelos drehen sich die Körper um das Tuch, verschmelzen mit ihm, werden von ihm getragen, freihändig im Spagat gehalten. Doch plötzlich ein vermeintlicher Sturz: Der Artist rotiert um das Tuch, fällt dem Boden entgegen und bleibt im letzten Moment kopfüber hängen, das Tuch um die Hüfte oder Füße gewickelt. "Abfaller" heißt das dann.
Zurück in der Artistenschule in Berlin. Natürlich steht auch hier "Vertikaltuchartistik" auf dem Stundenplan.
"Jetzt gehen wir in die Mitte der Artistenhalle. Die ist ja hier elf Meter hoch an dem Punkt und da hängt ein Tuch, ein wunderschönes gelbes Tuch und da turnt unser Alexander dran."
Vom Ballett zu den Artisten
Alexander Hildmann ist 16 Jahre alt, schlank und durchtrainiert. Sein Körper erinnert an den eines Balletttänzers. Kein Wunder, die Staatliche Artistenschule Berlin und die Staatliche Ballettschule Berlin befinden sich auf demselben Gelände.
"Ich habe zuerst die Aufnahmeprüfung für Ballett gemacht. Jedoch habe ich dann gemerkt, dass ich mit dieser Entscheidung als Balletttänzer nicht ganz zufrieden war. Und dann habe ich angefangen, bei den Artisten mal zuzugucken, was die machen", berichtet der Schüler. "Und relativ schnell habe ich diesen Entschluss gefasst, dass Artistik eher was für mich ist, und habe dann auch gewechselt."
Turnen lag ihm schon in seiner Kindheit. Körperspannung, anmutige Bewegungen und die Freude am körperlichen Ausdruck hat er nicht erst beim Ballett erlernt. Die Freiheit der Artistik, die unterschiedlichen Requisiten, die in gewisser Weise vielleicht auch einen fast kindlichen Spieltrieb und Erforschungsdrang befriedigen, taten ihr Übriges und dann kam das Vertikaltuch.
"Ich habe das mal in der Projektwoche der Schule ausprobiert und seitdem habe ich mich komplett in das Gerät verliebt, schon als ich bei den Artisten hier zugeschaut habe. Da ging mir das Gerät nicht mehr aus dem Kopf und ich fand es einfach sehr beeindruckend. Und dann habe ich beschlossen, das zu erlernen, auch wenn ich am Anfang Schwierigkeiten hatte mit der Kraft. Ich wollte damit irgendwie nicht aufhören. Es war für mich so ein Muss, dieses Gerät zu erlernen."
Vertikaltuchartistik startet in den 80er-Jahren durch
Das mit der Armkraft scheint sich erübrigt zu haben – anstrengend sieht es jedenfalls nicht aus, wenn Alexander der Decke entgegenklettert. Die Mischung aus Kraft und Technik macht selbst die Basis der Vertikaltuchartistik schön anzusehen. Das fließend Geschmeidige, das in der Zirkus- und Varietéwelt so beliebt ist.
Es sind die End-1980er- und 1990er-Jahre, als das Vertikaltuch überall in der Welt in großen Zirkus- und Varietéproduktionen auftaucht.
Es ist das Spiel mit der Schwerkraft, das den Reiz auch dieser Form der Artistik ausmacht. Dieses vermeintlich Schwerelose, das Erheben des Menschen in einen ihm eigentlich fremden Lebensraum. Die ästhetische Verbindung von Kraft, Eleganz und Bewegung, ausgeführt von Frauen und Männern in luftiger Höhe.
"Tuch war eigentlich eher so eine Frauendomäne und jetzt haben es auch sehr viele Männer für sich entdeckt. Oder man macht das manchmal auch zu zweit, Dame und Herr am Tuch, das gibt es natürlich auch."
Die physische Komponente dieses Tanzes in der Vertikalen ist enorm, auch wenn es dann später in der Manege eher elegant als kräftig daherkommt – die Kraft ist nur Mittel zum Zweck.
"Ich bin definitiv breiter im Schulterbereich geworden", sagt Alexander Hildmann, "weil ich sehr viel mit meiner Armkraft arbeiten muss."
Varietéschule für interessierte Laien
Berlin Kreuzberg, Mittenwalder Straße, zweiter Hinterhof. IVA Berlin steht an der Tür, Internationale Varieté Academy, ein Fitnessstudio der besonderen Art.
An sieben Tagen in der Woche wird hier für sportlich aufgeschlossene und interessierte Laien all das angeboten, was auch in Artistenschulen gelehrt wird. "Wir sprechen über Luftartistik, also alles, was mit Klettern in der Luft an Tüchern, Seilen, Trapezen zu tun hat. Im Prinzip Zirkus für jedermann"
Unter anderem stehen auch diverse Kurse "Aerial Silks", also Vertikaltuch, auf dem Stundenplan. Die Trainerinnen: Absolute Profis, die an den Tüchern durch das Rampenlicht überall in der Welt geschwebt sind. Olena Yakymenkoum zum Beispiel hat ein Diplom an der Zirkusschule in Kiew gemacht, Hauptfach Luftakrobatik. Petra Lange tourte nach einer Ausbildung am National Centre for Circus Arts in London über 20 Jahre durch die Manege.
Jetzt trainieren sie Menschen, deren Ziel nicht der Zirkus ist, sondern ein besonderes Fitnesstraining. Und es kommen nicht nur durchtrainierte Fitnessjunkies, auf der Suche nach dem neuen Kick.
"Nein, ich habe, als ich damit angefangen habe, überhaupt keinen Sport gemacht", sagt Katharina Völker. "Ich habe mit dem Sport angefangen, regelmäßig zu trainieren. Das ist auch so ein Sport, bei dem ich freiwillig sage: Ich kann heute nicht, ich habe Training."
Ganzkörpertraining für alle
Die Grenzen setzt der eigene Körper, so Trainerin Petra Lange. Hat man Spaß an der Bewegung, macht man auch weiter und die Fitness entsteht nebenbei. "Es ist ein Ganzkörpertraining für jedes Alter, man ist nie zu jung oder zu alt, man macht die Fortschritte so schnell oder so langsam, wie es einem passt."
Körper und Geist müssen beim Vertikaltuch in Einklang gebracht werden. Da ist er wieder, der Respekt vor dem Gerät und die Kontrolle über den eigenen Körper und die Ängste. "Man geht bei diesem Sport immer über Grenzen. Man fängt an und denkt: Das schaffe ich niemals, was die da in zwei, drei Jahren schaffen. Und dann, auf einmal schafft man es, weil man halt trainiert hat", sagt die Trainerin. "Man muss schon selber diesen Biss haben, aber ich glaube, wenn man sich in diesen Sport verliebt, hat man den Biss."
Egal ob beim Seiltanz, beim Slacklinen oder am Vertikaltuch, egal ob als Profi oder Amateur, auf der Bühne, in der Manege oder im Park – die Faszination liegt in der anmutigen Perfektion der Bewegung.