Arne Rautenberg: "permafrost"

Lyrik ohne politische Verwertbarkeit

05:48 Minuten
"permafrost" von Arne Rautenberg
Jedes Gedicht in diesem Band ist eine Blackbox, man erlebt eine Überraschung nach der anderen. © Wunderhorn / Deutschlandradio
Von Sieglinde Geisel |
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"permafrost" weckt Erwartungen an einen Lyrikband voller Klima-Dichtung. Und tatsächlich befasst sich Arne Rautenberg mit Stressreaktionen in Flora und Fauna. Für politische Botschaften geben sich seine Gedichte trotzdem nicht her.
Der Titel "permafrost" lässt an den Klimawandel denken, und in der Tat finden sich in Arne Rautenbergs jüngstem Lyrikband Gedichte, die der Erwartung von Nature Writing oder Climate Fiction entsprechen. Eines ist mit "hummelsterben" überschrieben, ein anderes handelt von der zweiten Kastanienblüte, einem Stresssymptom. Und doch ist dies keine Klima-Lyrik, dazu beginnt das Gedicht "permafrost" zu ambivalent:
"der rückgang von permafrost
wird süß mit dem ersten sonnenstrahl"
Durch die Art und Weise, in der das Gedicht vom Werden und Vergehen spricht, entzieht es sich der politischen Verwertbarkeit.
Die Gedichte sind konsequent in Kleinschrift geschrieben und verzichten weitgehend auf Interpunktion. Mit dieser Entscheidung signalisiert Rautenberg, dass im Raum seiner Gedichte jedes Wort gleich wichtig ist.
Jedes Gedicht in diesem Band ist eine Blackbox, man erlebt eine Überraschung nach der anderen. Schon rein visuell unterscheiden sich die Gedichte: Kommen manche ganz traditionell in vierzeiligen Strophen daher, schlängeln sich bei anderen die Verse über die Seite. Es gibt Prosasätze, die sich als Gedicht geben, oder auch konkrete Poesie. So ist im letzten Gedicht das Wort "silence" in konzentrischen Kreisen angeordnet, lässt sich aber nur von innen nach außen und von außen nach innen lesen. Dann wieder enthält jede Zeile nur ein Wort – und es geht diagonal über die Seite hinweg treppab.

Spiel und Ernst

Mit anderen Worten: Arne Rautenberg lädt uns ein zum Spiel, und wie jedes echte Spiel, birgt auch dieses Spiel mit den Wörtern und Zeilen einen Ernst. Wir sehen den Menschen zwischen Kosmos und Alltag, wir tauchen ein in Stillleben und Landschaften an der Nordsee – der Autor lebt in Kiel –, und im Kapitel "mutter-anhänge" werden wir, am Ende des Bands, davon Zeuge, wie sich ein Sohn um seine alte Mutter zu kümmern versucht, zu der er aber nicht mehr durchdringen kann.
"schreib dies hier flüchtig auf
ein leerzeichen zu viel"
Natürlich ist zwischen "hier" und "flüchtig" tatsächlich ein Leerzeichen zu viel, Sinnbild für die Entleerung der Zeichen zwischen Mutter und Sohn. Rautenberg lässt in seinen Gedichten Inhalt und Form immer wieder anders verschmelzen, und gerade dies wirft uns beim Lesen aus der Bahn. "Die deutsche Sprache ermöglicht es mir, dass ich mich von mir selbst überraschen lassen kann", hat Rautenberg das einmal in einem Interview formuliert.
Im ersten Gedicht, das den Band mit einem Paukenschlag beginnen lässt, fragt ein Sohn seinen Vater:
"wie ist es denn so
wenn ich nicht mehr bin"
Die Antwort des Vaters generiert sich sozusagen selbst, von Zeile zu Zeile, in einer bezwingenden Logik:
"es ist wie es war
bevor du geboren"
Dieser Gedanke wird rhythmisch und klanglich perfekt komponiert – bis sich am Ende der Kreis des Lebens ebenso schließt wie der Kreis des Gedichts.

Hintersinnige Dreizeiler

Wenn die Sprache den Denkprozess vorantreibt, entsteht manchmal ein hintersinniger Witz, wie in diesem Dreizeiler:
"zwölf werden jünger
und leben schließlich
ewig"
Der Witz entsteht aus Doppeldeutigkeit des Worts "jünger" – das Gedicht macht daraus ein Paradox. Und manchmal folgt das Gedicht auch einfach dem Klang der Buchstaben:
"unüberbrückbar ist aller rückblick
nach innen geworfen: gilbende fotos vergessener feiern"
Nicht immer versteht man, wohin ein Gedicht uns führt. Denn die Gedichte erfinden sich ihre eigenen Regeln, und der Dichter folgt ihnen beim Schreiben. Man darf diese Zeilen durchaus programmatisch lesen:
"ja für mich ist
ein guter wille
das gegenteil von guter kunst".

Arne Rautenberg: "permafrost. Gedichte"
Das Wunderhorn, Heidelberg 2019
88 Seiten, 20,00 Euro

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