Tinnitusforschung

Eine App gegen das Pfeifen im Ohr

05:55 Minuten
Illustration: Ohr mit Lärmwellen von rechts und links.
Aus der wissenschaftlichen Perspektive spielen Apps noch keine große Rolle bei der Behandlung von Tinnitus. Das könnte sich bald ändern. © imago / Science Photo Library / art4stock
Von Horst Gross · 13.01.2022
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Etwa vier Millionen Menschen in Deutschland leiden an einem Tinnitus. Eine neue App könnte ihnen helfen. Sie passt Songs dem jeweiligen Störgeräusch im Ohr an und lässt den Tinnitus so in der Musik verschwinden.
„Ich habe einen sehr hochfrequenten Pfeifton, Trillerpfeife, ununterbrochen, Tag und Nacht“, erzählt Britta Dutschke. „Es ist eine große Belastung im Alltag.“ Denn der nervig hohe Pfeifton hat Folgen: Konzentrationsstörungen, weniger Lebensfreude – bis hin zur depressiven Verstimmung.
Klar also, dass Britta Dutschke keine Therapiechancen ausgelassen hat. Sie sei bei der Ergotherapie gewesen, habe versucht, über Musik abzuschalten, und habe Medikamente genommen. „Leider muss ich sagen: Es ist mir nicht gelungen, diese Trillerpfeife aus dem Kopf auszustellen.“
Damit ist sie nicht alleine. Die Medizin hat bislang nur Methoden im Angebot, die helfen, das Geräusch besser ertragen zu lernen. Abschalten lässt sich der Dauerton nicht, erklärt Birgit Mazurek. Die Professorin ist Direktorin des Tinnituszentrums an der Berliner Charité und Mitautorin der aktuellen Tinnitusleitlinien.
Dort seien die Therapiemodule aufgelistet, die sinnvoll sind. „Das ist zum einen das Counseling, zum Zweiten, wenn ein Hörverlust gegeben ist, ein Hörgerät, eine Hörgeräteversorgung. Dann die Behandlung von Komorbiditäten und vor allen Dingen auch die verhaltenstherapeutischen Interventionen.“

Täuschungsmanöver gegen Tinnitus

Aus der wissenschaftlichen Perspektive spielen Apps also bislang noch keine Rolle bei der Behandlung von Tinnitus. Denn bislang hat keine bewiesen, dass sie wirklich relevant helfen könne, betont die Fachärztin. „Es wird sicherlich App-gestützte Interventionen geben, die vielleicht auch dann evaluiert sind und auch bewertet sind. Aber man kann zum jetzigen Zeitpunkt nur sagen, was wir jetzt haben“, so Mazurek.
Genau in diese Wissenslücke zielt die Universität Dresden mit ihrer Neuentwicklung. Der Informatiker Martin Spindler hat zusammen mit seinem Team eine neue App entwickelt: Mit deren Hilfe wird zuerst der individuelle Tinnitus-Ton ermittelt.
Anschließend wird dann in einer beliebigen Musik die Tonhöhe, passend zum jeweiligen Tinnitus, angehoben. Durch dieses Täuschungsmanöver verschwindet der Tinnitus quasi in der Musik. „Wir haben dann Tests gemacht mit ersten betroffenen Anwendern, die recht einhellig angegeben haben, dass, während die angepasste Musik erklang, die Tinnitus-Belastung komplett oder nahezu vollständig reduziert wurde – und der Effekt auch zeitweilig anhielt“, sagt Spindler.

App könnte als Medizinprodukt zugelassen werden

Wird der Tinnitus in Musik eingebaut, ist das für Außenstehende ein kaum hörbarer Effekt, für Betroffene dagegen die reinste Erholung. Britta Dutschke, die Tinnitus-Patientin aus Dresden, hat den Prototyp an der Uni schon einmal ausprobiert. „Ich habe es ja erst nicht geglaubt“, erzählt sie. „Aber dann doch erfahren, dass es wirklich eine sehr große Entspannung bringt.“
Nun arbeiteten sie daran, die App als Medizinprodukt zuzulassen, sagt Martin Spindle. „Dafür läuft aktuell am Uniklinikum in Dresden eine größere Studie mit Tinnitus-Betroffenen“, und zwar mit 120 Testpersonen. Wenn alles gut geht, könnte „HARMONY“ noch 2022 als Kassenleistung an den Start gehen, und noch einen Nutzen hat diese neue App-Forschung. Das Handy entpuppt sich nun als Datenlieferant, der diese Forschung endlich voranbringt.

Mehr Daten für die Tinnitusforschung

Jetzt fließen auch Forschungsgelder, berichtet Professor Franz Hauck, Informatiker an der Universität Ulm. Die Forschenden wollen den individuellen Auslösern für Tinnitus auf die Spur kommen. „Wir versuchen, wenn etwas Interessantes mit dem Patienten passiert, das dann mit der Temperatur oder mit der Lautstärke in der Umgebung oder mit dem allgemeinen Stresslevel in Bezug zu setzen“, sagt Hauck. Dadurch erhalte man in der Tinnitusforschung mehr Daten, „was denn eigentlich in welchen Situationen den Tinnitus auslöst oder auch einfach die Beschwerden erhöht“.
Geplant ist, dass die App dann automatisch Alarm gibt. Der Patient oder die Patientin bekomme dadurch eine direkte Rückmeldung. „Du bist jetzt gerade wieder dabei, in eine Situation zu kommen, wo uns die Daten sagen, dass dein Tinnitus sich dann verschlechtert. Kannst du die Situation irgendwie verändern?“ Wichtige Ergänzungen in der Behandlung also.
Den regelmäßigen Gang zum Facharzt kann aber auch in Zukunft keine App ersetzen, betont Birgit Mazurek. Denn zunächst müsse immer eine Diagnostik und Abklärung erfolgen. „Es muss geschaut werden, wie sehen denn die Begleiterkrankungen aus? Wie stark ist der Leidensdruck? Und dann kann man die Entscheidung fällen, welche Interventionen sind sinnvoll.“ In Zukunft dann vielleicht sogar mit Handy-App, die den Quälgeist einfach zeitweise ausschaltet. Es wäre doch zu schön.

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