Anuk Arudpragasam: „Nach Norden“

Entdeckungsreise durch Sri Lanka

06:12 Minuten
Das Cover des Buches von Anuk Arudpragasam "Nach Norden", darauf ein Ufer, gesäumt von Pappeln, entlang diesem Ufer führen Eisenbahngleise, auf denen ein Zug fährt.
© Hanser Berlin

Anuk Arudpragasam

Aus dem Englischen von Hannes Meyer

Nach NordenHanser Berlin, Berlin 2022

320 Seiten

25,00 Euro

Von Lara Sielmann · 10.11.2022
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In Anuk Arudpragasams neuem Roman fährt ein Mittdreißiger mit dem Zug durch Sri Lanka: von Colombo in den Norden des Landes, zu einer Beerdigung. Die Reise führt den Lesern vor Augen, welch tiefe Spuren der jahrelange Bürgerkrieg hinterlassen hat.
Der Anfang 30-jährige Krishan setzt sich in den Zug in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas. Bis auf Bargeld hat er nicht viel dabei. Seine Reise führt ihn hoch in den Norden, vorbei an größeren Städten und entlegenen Orten.
Seine Mission: Auf die Beerdigung von Rani, der ehemaligen Pflegerin seiner Appamma (Großmutter) zu fahren. Das Geld in seiner Tasche stammt auch von der Großmutter. Sie selbst ist zu schwach, um die mehrtägige Fahrt auf sich zu nehmen. Er soll es Ranis Tochter geben als Spende für die Beisetzung.

Albträume vom Bürgerkrieg

Langsam erinnert Krishan sich an das Leben mit Rani unter dem gemeinsamen Dach bei seiner Großmutter und Mutter in Colombo, das erst wenige Monate her ist. Wie Rani im gemeinsamen Zimmer mit seiner Appamma ohne Ton nachts auf dem Boden liegend fernsah, während die Großmutter bereits schlief, ihre nächtlichen Schreie, Ausdruck ihrer quälenden Albträume.
Ranis Söhne sind im Bürgerkrieg umgekommen, sie selbst litt an Depressionen und einer posttraumatischen Belastungsstörung.
Je länger die Reise geht, desto mehr macht sich Krishan Gedanken über die sichtbaren und psychischen Spuren, die der Krieg hinterlassen hat: „Der Großteil von ihnen waren Menschen, die im Krieg alles verloren hatten, Menschen, die, selbst wenn sie nicht interniert, gefoltert oder vergewaltigt worden waren […], doch unvorstellbare Ausmaße der Gewalt gesehen hatten.“

Abgestumpft gegen Gewalt

Dass Krishan nach seinem Studium in Delhi zurück in seine Heimatstadt gezogen ist, um bei einer NGO zu arbeiten, liegt an der Trennung von seiner Ex-Freundin Anjum, einer queerfeministischen Aktivistin aus Indien.
Krishan selbst fühlt sich kaum betroffen von dem Krieg, der vor allem im Norden des Landes, aber nicht im westlichen Colombo stattfand, auch wenn es im ganzen Land Anschläge gab. Bei einem kam auch sein Vater um.
Dies erwähnt Krishan nur am Rande und das deutet auch einen anderen Konflikt an: seine Abgestumpftheit der Gewalt und den Geschehnissen gegenüber, die sein Land jahrelang prägten und deren Auswirkungen ihn nach wie vor umgeben.
Diese Taubheit passt zu dieser passiven Figur. Krishan ist ein Suchender, der sich an die zerbrochene Beziehung zu Anjum auch Jahre später noch klammert, als hätte er sonst keinen Halt, nichts von Bedeutung in seinem Leben.

Reflexion auf der Reise

Auf der Reise selbst wird er zum Entdecker, fängt an über Zusammenhänge zu reflektieren, über die jüngere wie ältere Geschichte Sri Lankas, schlägt dabei Bögen zum Buddhismus, denkt über prophetische Langgedichte nach, genauso wie über die tamilische Separatistenbewegung „Tiger“ und zwei Soldatinnen, die zur Suicide-Abteilung „Black Tiger“ gehörten, die für die tamilische Unabhängigkeit im Land kämpften. In all dem versucht er Sinn zu finden, für das Leben und die Brutalität an sich.

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Diese Anekdoten und Erzählungen sind literarisch gekonnt eingeflochten: Durch die Augen des Reisenden ist man als Leserin an die Hand genommen, entdeckt wie Krishan ein Land und eine Kultur, die in Deutschland wenig Beachtung finden. Dabei fällt auf, dass Männer eine untergeordnete Rolle spielen. In Krishans Erzählungen geht es vor allem um Kameradinnenschaft, queeres Leben und enge Bindungen zwischen Frauen.

Tiefe Einblicke in Figuren

Es ist der zweite Roman von Anuk Arudpragasam, mit dem er für den Booker Prize 2021 nominiert war. * Bereits für seinen Debütroman „Die Geschichte einer kurzen Ehe“ über den Bürgerkrieg in Sri Lanka hatte der Autor viel Aufmerksamkeit erhalten. In „Nach Norden“ schafft er es nun erneut, die Unmittelbarkeit des Krieges und seine Außenwirkungen auf Sri Lanka und die Tamilen zu verdeutlichen.
Dabei steigt er tief in die Psyche des Menschen ein und zeigt, was Traumata, tiefe Überzeugung und nicht zuletzt Liebe auslösen. Ganz nah kommt man seinem Protagonisten, dessen Gedankenwelt ausschweifend und komplex ist wie das Land, das er durchreist.
* Wir haben an dieser Stelle eine Korrektur vorgenommen.
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