Antonio Muñoz Molina: „Gehen allein unter Menschen“

Flaneur mit Smartphone

06:01 Minuten
Cover des Buchs von Antonio Muñoz Molina: „Gehen allein unter Menschen“
© Penguin Verlag

Antonio Muñoz Molina

Übersetzt von Willi Zurbrüggen

Gehen allein unter MenschenPenguin Verlag, München 2021

544 Seiten

26,00 Euro

Von Dirk Fuhrig · 13.12.2021
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Vom „Passagenwerk“ bis Fantasy: Antonio Muñoz Molina hat europäische Literaturgeschichte im Gepäck und Technik der Gegenwart in seiner Hosentasche. So schreibt er einen modernen Roman übers Spazieren.
Antonio Muñoz Molina durchstreift seine Heimatstadt Madrid, aber auch andere Metropolen wie New York, Paris und Berlin spielen eine Rolle. Der Ich-Erzähler ist ein sehr zeitgenössischer urbaner Spaziergänger, der ein Smartphone in der Hosentasche trägt, mit dem er Töne aufnimmt, nämlich alles, was ihm unterwegs zufällig begegnet: Geräusche, Gesprächsfetzen, den Wind, die Schritte, das große allgemeine Rauschen einer Einkaufsstraße, das Stimmengewirr in seinem Frühstückscafé oder das Rattern der Metro. 

Der Flaneur als Geräuschesammler

Molinas Protagonist könnte ein Geräuschesammler sein, wie manche Archivare beim Radio. Der Erzähler erinnert an vergessene Stimmen, etwa die von Walter Benjamin, der in den 1920er-Jahren kurze Texte für den Rundfunk gesprochen hat, die allerdings alle verschollen sind.
Der Autor des berühmten „Passagenwerks“ – Hochamt der Müßiggänger-Literatur – ist eine der zentralen Figuren, auf die Molinas Ich-Erzähler bei seinem nicht-linearen Durchstreifen der Städte immer wieder stößt. Er begegnet ihm auf der Flucht nach Port-Bou, im städtischen Anzug und mit abgewetzter Aktentasche, ebenso wie Marcel Proust in Paris oder Garcia Lorca in New York.

Über Werbetafeln in die Welt der Fantasie

Molinas Stadtwanderer kultiviert jedoch keinen nostalgischen Blick auf eine vermeintlich gute alte, gemütliche Zeit im Takt des Schlenderns. Vielmehr schlägt er ästhetische Brücken von der Vergangenheit in die unmittelbare Gegenwart.
Baudelaire brauchte Opium oder Haschisch, um sich in einen Rausch zu versetzen. Heute bieten in Molinas Universum die Werbeclips, die etwa am Times Square über die Fassaden laufen, eine andere Form des Abtauchens in eine Fantasiewelt, ebenso wie virtuelle Universen der Computerspiele.

Terrorismus und Hochsicherheitsgesellschaft

Der Text ist eine Ansammlung zahlloser kurzer Abschnitte, die Molina erlauben, beliebig zwischen Orten und Zeiten hin und her zu springen. Die islamistischen Attentate in Nizza und Paris spielen in seiner assoziativen Welterkundung ebenso eine Rolle wie ein G20-Treffen der führenden Wirtschaftsnationen in der von chinesischen Sicherheitsdiensten leergefegten Stadt Hangzhou.
Molinas Roman erschien im spanischen Original bereits 2018. Von den noch weit repressiveren Maßnahmen des autoritären chinesischen Regimes angesichts der Coronapandemie kann das Buch also noch nichts wissen. Aber man hat beim Lesen das Gefühl, er habe eine zunehmend von totalitären Entwicklungen geprägte Welt vorausgeahnt.

Info-Alltag trifft auf literaturhistorische Reflexion

Der 1956 in Andalusien geborene Schriftsteller collagiert versprengte Notizen aus den Nachrichten, Berichte über Morde, Verbrechen und Katastrophen, aber auch skurrile Ereignisse aus der Sphäre der Promis, oder so seltsame Phänomene wie die „Horror-Clowns“, die eine Zeit lang die Straßen unsicher machten.
All diese disparaten Informationen, die täglich auf uns einströmen, fügt er in seine literaturhistorischen Reflexionen ein.

Die „Flanierologie“ der Gegenwart

Der Roman ist ein kunstvoll gearbeitetes Labyrinth an Impressionen. Die scheinbar ungeordnete Schnipsel fügen sich zu einem gewaltigen Epos. Molinas literarische Tiefenbohrung stellt die schwer durchschaubare, oft monotone und depressiv machende Gegenwart des 21. Jahrhunderts in ein Kontinuum mit den Stadt- und Welterkundungen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts.
Ein wunderbarer Roman, der die scheinbar überkommende Kunst der „Flanierologie“ noch einmal meisterhaft zum Glänzen bringt.

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