Michel Friedman: "Fremd"
Berlin Verlag, Berlin 2022
176 Seiten, 20 Euro
Antisemitismus in Deutschland
Judenhass ist auch heute in unserer Gesellschaft allgegenwärtig. © imago images / Steffen Schellhorn
Verharmlost, vergessen, verdrängt
53:55 Minuten
Den antisemitischen Doppelmord, über den der Historiker Uffa Jensen in seinem Buch schreibt, hatte er selbst fast vergessen. Dieses Vergessen führt dazu, sich fremd zu fühlen und fremd gemacht zu werden, sagt der Publizist Michel Friedman.
"Wir als Juden stehen in der Hitparade der stereotypisierten Feindbilder ganz oben", sagt der Jurist und Publizist Michel Friedman. Sein aktuelles Buch trägt den kurzen Titel „Fremd“ und spiegelt mit dieser Prägnanz auch den Stil des Inhalts wider.
Friedmans Text ist gesetzt wie ein Gedicht. „Aber es ist kein Gedicht“, sagt Friedman. „Es sind keine Verse, es sind kurze Sätze, es sind wenige Worte, es reimt sich nichts und es hat auch nicht die Struktur eines Gedichtes. Ich merkte einfach, dass in dieser Form, jedes Wort seine Bedeutung bekommt.“
Nicht nur Jude, sondern auch Migrant
Die Fremdheit habe ihn ein Leben lang begleitet, sagt Friedman. „Ich glaube, dass sie jeden Menschen begleitet, dass wir fremd in dieser Welt sind und dass wir so vieles versuchen, um dieses Fremdheitsgefühl loszuwerden.“
Seine Biografie sei nur exemplarisch, so Friedman, aber sie zeige, wieviel Leid und wieviel Schmerz Menschen erleiden, wenn sie nicht zum Mittelkreis dazugehören. „Natürlich ist das jetzt meine Biografie und natürlich hat das Judentum und das Dritte Reich eine große Rolle. Aber in meiner Gegenwart bin ich ja nicht nur Jude gewesen, sondern auch Migrant.“
Friedman ist mit einem UN-Flüchtlingspass aus Frankreich nach Deutschland gekommen. Er habe erfahren, wie es ist, wenn die Eltern nicht die Sprache des neuen Landes sprechen, wie es beim Ausländeramt ist und wie gemein es ist, wenn die Fremden „markiert“ werden, als seien sie fremd. „Ich wollte diese Geschichte nicht als klassisches Sachbuch erzählen, sondern mit einer anderen Perspektive. Ich wollte bewusst eine emotionale Ebene einbauen, weil ich glaube, dass Verstehen nur kognitiv und emotional möglich ist.“
Doppelmord von Erlangen
Uffa Jensen ist Historiker und Antisemitismusforscher. Sein Buch „Ein antisemitischer Doppelmord“ behandelt unter anderem den Doppelmord an Shlomo Lewin und seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke. Lewin war Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Nürnberg. Beide wurden 1980 in ihrem Haus in Erlangen erschossen.
„Ich war über diesen Fall gestolpert und obwohl ich Antisemitismus- und Rechtsextremismusforscher bin, hatte ich den Fall lange Jahre nicht im Kopf und Kollegen ging es genauso. Ich habe mich gefragt, wie es sein kann, dass man das vergisst.“
Ereignisse wie der Anschlag auf die Synagoge in Halle oder die rassistisch motivierten Morde in Hanau und auch die Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds, NSU, haben eine lange Vorgeschichte, die sich durch die gesamte bundesrepublikanische Geschichte ziehe, so Jensen. „Wir müssen uns intensiver mit dieser Vorgeschichte auseinandersetzen, weil wir nur dann verstehen können, warum wir alle so überrascht waren über die Aufdeckung des NSU. Und es gibt diese Vorgeschichte, nur die haben wir vergessen“, so Jensen.
„Ich habe diesen Mord nie vergessen“, wundert sich Friedman. Dieses Beispiel mache deutlich, wie unser Gedächtnis und unser Vergessensmechanismus aufgebaut ist. „Die meisten haben ja sogar vergessen, dass ihre Eltern Nazis waren – und zwar nicht à la Höcke, sondern Hardcore.“
Mit Blick auf den Doppelmord an Lewin und Poeschke sagt Uffa Jensen, es handelt sich nicht um ein „Vergessen“, sondern um ein „Vergessen machen“. Allen Ermittlungsbehörden und später auch dem Gericht erschien das Opfer tendenziell selbst schuld. Und auch die Presse hielt Lewin für einen Mossad-Agenten. „Durch solche Mechanismen hört das Publikum, dass mit dem Opfer sowieso etwas verkehrt war, was komplett falsch war.“
Rechtsterrorismus als Schimäre
Und dann dürfe auch die politische Dimension nicht vernachlässigt werden, so Jensen. Franz-Josef Strauß wollte in den 1980er-Jahren Bundeskanzler werden. „Es gab nicht nur in Bayern, sondern auch weit ins konservative Lager, den Versuch, Rechtsterrorismus für eine Schimäre zu halten“, erzählt Jensen. Der Fall sei damals auch im Bundeskanzleramt und im Bundeskabinett besprochen worden. Doch das sei dann so „weggeglitten“ und auch in der Öffentlichkeit sei das weggeglitten.
Das sei derselbe Mechanismus wie bei den NSU-Morden, sagt Friedman. Es habe geheißen, man ermittle in alle Richtungen. Doch der Gedanke, es könnte ja auch ein rassistischer, menschenverachtender Mord gewesen sein, kam gar nicht auf. Dabei seien in Deutschland mehr Menschen durch Rechtsextreme ermordet worden als durch terroristische Akte von islamistischen Verbrechern. „Das ist etwas, was in unserer Gesellschaft im Ranking so weit wie möglich nach hinten geschoben wird“, sagt Friedman.
Auch Jensen schreibt in seinem Buch, dass ohne das Versagen, das Vergessen, das Verdrängen beim sogenannten „Erlanger Doppelmord“ es dieses Versagen, Vergessen und Verdrängen bei den NSU-Morden vielleicht nicht gegeben hätte.
Rechtsterrorismus funktioniert anders als Linksterrorismus
„Auch Polizeiroutinen und Ermittlungsroutinen basieren letztendlich auf Erinnerungen daran, was in einer Gesellschaft Bedrohungsszenarien sind“, sagt Jensen. Das sind vergangene Taten. „Wenn man also in einer Gesellschaft lebt, in der gerade Anschläge von Linksterroristen wahnsinnig präsent sind, dann sind Polizisten darauf natürlich sehr geeicht und haben Schwierigkeiten, neue Phänomene wie Rechtsterrorismus einzuordnen.“
Uffa Jensen: "Ein antisemitischer Doppelmord - Die vergessene Geschichte des Rechtsterrorismus in der Bundesrepublik"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022
317 Seiten, 24 Euro
Jensen resümiert, es sei ein grundlegendes Problem, dass Rechtsterrorismus eben anders funktioniere als Linksterrorismus. Eines der wichtigsten Ziele von Rechtsterrorismus sei es, nicht Staatsanwälte oder Regierungsbeamte zu attackieren, sondern „markierte Gruppen“, Minderheiten.
Zum Problem gehöre auch, so Jensen, dass es eine Tradition gebe, nicht so viel über Antisemitismus zu reden. „Heute reden wir viel über Antisemitismus, aber 1980 gab es das Thema gar nicht.“ In einem Prozess wurde der Gründer der sogenannten Wehrsportgruppe Hoffmann, Karl-Heinz Hoffmann, wegen des Verdachts der Beteiligung an dem Anschlag angeklagt, aber freigesprochen.
Antisemitismus nicht auf dem Schirm
„Das Urteil in dem Prozess gegen Hoffman ist über 1100 Seiten lang. In diesen 1100 Seiten gibt es nur einen Absatz, in dem die Frage auftaucht, ob das vielleicht ein antisemitischer Mord sein könnte. Und natürlich wird das abgelehnt. Man hat das gar nicht auf dem Schirm“, so Jensen.
„Mich überrascht, wie Menschen überrascht sein können, wenn sie so etwas hören“, sagt Friedman. „Wir erleben seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland Diskriminierung, Ausgrenzung, Fremdmachung, Entfremdetwerden von irgendwelchen Gruppen, die andere Gruppen nicht anerkennen oder tolerieren. Ich möchte nicht toleriert werden. Wer bist du, der mir sagt, ich darf dazugehören?“
Die Lesart aus dem Grillo-Theater Essen ist eine Kooperation von Deutschlandfunk Kultur mit dem Schauspiel Essen, der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und der Buchhandlung Proust.