Annie Ernaux: "Der junge Mann"
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Ein junges Gesicht als Spiegel
06:00 Minuten
Annie Ernaux
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Der junge MannSuhrkamp, Berlin 202342 Seiten
15,00 Euro
Die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux schreibt über ihre Affäre mit einem deutlich jüngeren Mann. Sie eignet sich dabei an, was lange den Männern vorbehalten war - und lässt doch keinen Zweifel daran, dass ihre Erinnerungsbücher konstruiert sind.
Eine spielerische Version von Stärke, Macht und Freude schwebt über diesem schmalen Bändchen, das Annie Ernaux letztes Jahr, bevor sie den Nobelpreis erhielt, in Frankreich veröffentlicht hat. Es geht um die Liebe einer älteren Frau zu einem fast 30 Jahre jüngeren Mann. Und wie immer geht es um Annie Ernaux selbst, genauer, um die Erinnerung an die Frau, die sie Mitte der 1990er-Jahre war. Es ist die Zeit, in der sie an „L’événement“ (Das Ereignis) schreibt, an dem Buch also, das von ihrer Abtreibung als Studentin in Rouen erzählt und das 2021 auf Deutsch erschienen ist.
Genuss statt Scham
Auch in „Das Ereignis“ war deutlich weniger von „Scham“ die Rede, als es sich in den letzten Jahren, während die 1940 geborene Französin zur Königin der Autofiktion aufstieg, einbürgerte. So schlank und zart der nun erschienene Band wirkt, bedeutet er doch eine Geste außerordentlicher Souveränität. Dabei geht es nicht nur um die Tatsache, dass Annie Ernaux das Liebesverhältnis zu dem Studenten - den sie A. nennt - offenbar genossen hat, bis hin zur Freude darüber, dass er seine 20-jährige Freundin für sie, die Mittfünfzigerin, verließ. Ernaux reflektiert auch, wie sich die Beziehung und das Schreiben über ihre Abtreibung verbunden haben.
Sex als Hilfsmittel
Eher launig betont sie am Anfang, Sex öfter als Hilfsmittel verwendet zu haben: „Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen. In dem anschließenden Zustand der Erschöpfung, der Verlorenheit wollte ich Gründe dafür finden, nichts mehr vom Leben zu erwarten. Ich hoffte, nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus, würde sich die Gewissheit einstellen, dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben.“
Doch dann kostet sie alle Motive aus, die eine solche Liebe nahelegen, das endlich emanzipierte und doch leicht verschobene Pendant zur Konstellation älterer Mann liebt junge Frau: die Wiederaufführung der eigenen Jugend beim Sex auf Matratzen, die bildungsbürgerliche „Initiation“ von A., der wie sie aus prekären Verhältnissen stammt, gemeinsame Reisen auf ihre Kosten.
Als eine besondere Freude schildert sie die Beobachtung, sich beim Gespräch in einem jüngeren Gesicht spiegeln zu können. Dieses Mittel, sich jung zu fühlen, entreißt sie freudig der Sphäre maskulinen Geheimwissens. Dass sich A. ein Kind von ihr wünscht und sie sich mit ihrem Arzt über die Mittel der Reproduktionsmedizin unterhält, führt keineswegs zu Selbstzweifeln und Grübeleien. Sie entscheidet sich schlicht, kein Kind mehr zu wollen – auch nicht für den „jungen Mann“. Sie hat ja bereits zwei Söhne.
Nur ein Zeitöffner
Wie konstruiert Annie Ernaux‘ Erinnerungsbücher sind – nichts anderes betont der Begriff „Autofiktion“ – zeigt sich auch darin, wie sie dieses Problem auf symbolischer Ebene löst. Einmal sagt A.: „Ich wäre am liebsten in dir drin und würde aus dir herauskommen, um dir zu ähneln.“ Das ist eine durchaus spezielle Interpretation ödipalen Begehrens.
Da diese Liebe in Rouen stattfindet und A. direkt gegenüber dem Krankenhaus wohnt, in das sie nach der Abtreibung in den 1960er-Jahren eingeliefert wurde, verknüpfen sich die beiden Geschichten fast von allein. Zumindest in Ernaux‘ Darstellung, die sie vor der Jahrtausendwende schrieb und letztes Jahr überarbeitet hat. Während das Buch über die Abtreibung voranschreitet, löst sie das Band zu dem jungen Mann. Seine Rolle sei die eines „Zeitöffners“ gewesen, analysiert sie nüchtern – und begrüßt das Glück, „allein und frei ins dritte Jahrtausend einzugehen“. Was für eine Feier weiblicher Souveränität!