Annie Ernaux: "Das Ereignis"

Archäologie einer Abtreibung

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Buchcover zu Annie Ernaux: Das Ereignis
Annie Ernaux schreibt in "Das Ereignis" wieder über eigenes Erleben und greift dabei weit darüber hinaus: Sie schafft ein eindrucksvolles Panorama der Epoche vor der Pille. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Edelgard Abenstein · 17.09.2021
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Beim Filmfestival in Venedig hat Audrey Diwans Abtreibungsdrama "L’évènement" den Goldenen Löwen gewonnen. Der Film basiert auf einem gleichnamigen Roman von Annie Ernaux. Mit 20 Jahren Verspätung erscheint "Das Ereignis" nun endlich auf Deutsch.
Die junge Studentin Annie wird 1963 ungewollt schwanger. Ihr Kind will sie nicht bekommen. Denn als uneheliche Mutter müsste sie womöglich ihr Studium abbrechen, das sie aus den beengten Verhältnissen ihrer Familie befreit hat.
Eine Heirat kommt für sie und ihren gleichfalls hilflosen Liebhaber auch nicht in Frage. Und so bleibt nur die damals strafbare Abtreibung. Annie Ernaux schildert in "Das Ereignis" einen Spießrutenlauf von Arzt zu Arzt, bis die junge Frau endlich eine ‚Engelmacherin’ findet, die den brutalen Eingriff vornimmt.

Die Epoche im Zeichen von Knauss Ogino

Wie in allen ihrer mehr als zwanzig Romane beschreibt die 1940 geborene Ernaux in diesem Buch eigenes Erleben. "Das Ereignis" geht als Teil ihres fortlaufend erzählten Gedächtnisprojekts aber auch wieder weit über ihre individuelle Geschichte hinaus. Es ist ein eindrucksvolles Panorama jener Epoche vor der Pille, als die Knaus-Ogino-Methode zur Zyklusberechnung die gängige Verhütungsmaßnahme war.
Das Frankreich der 1960er-Jahre portraitiert Ernaux zwischen Heuchelei und der jede Frau bestimmenden Angst vor ungewollter Schwangerschaft.
Zunächst ist da die Genauigkeit, mit der die Autorin sich mittels Tagebüchern und Kalendern, Chansons, Fotografien, Filmtiteln und Redensarten erinnert.
Sie spürt der jungen Frau nach, die verzweifelt durch Paris und Rouen irrt. Für sie hat der Anblick von Männern und Frauen, die in Cafés miteinander scherzen, etwas Beängstigendes. Ist sie als einzige auf Abwege geraten und für immer ausgeschlossen aus der normalen Welt?

Materielle Erinnerung

Es ist eine schmerzhafte Suche, die sie in verborgenen Kammern ihres Selbst führt. Um zu ihrer eigenen Vergangenheit vorzudringen, hält Annie Ernaux immer wieder den Erzählfluss an, spürt Details nach und fahndet nach Beweisen für die Wirklichkeit. Denn Erinnerung, schreibt sie, stehe jeder Art von Gefühligkeit entgegen. Die "einzig wahre Erinnerung ist materiell".
Und so geht Ernaux die alten Straßen und Plätzen entlang. Die heute renovierten Fassaden sind von ihren Farben zu befreien. Sie muss ihnen ihren düsteren Ton wiedergeben, der Fußgängerzone ihre Autos".

Mit Wucht, ohne Mitleid

Wie eine Archäologin legt Annie Ernaux Schicht um Schicht frei. Ihr Schreiben ist distanziert, sachlich, nüchtern. In immer wieder eingeschobenen reflexiven Passagen analysiert sie genau, was sie tut – ohne zu theoretisieren.
Das Erstaunlich an diesem Buch: Trotz des lakonischen Stils, der sich jede Art von Empathie und Mitleid versagt, trifft es mit Wucht. Denn die 1960er-Jahre mögen vergangen sein. Mit Blick auf die rigiden Abtreibungsregeln aber, die heute wieder in Texas, Mexiko oder Polen drohen, ist Annie Ernaux‘ Bericht hochaktuell.

Annie Ernaux: "Das Ereignis"
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp, Berlin 2021
104 Seiten, 18 Euro

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