Anna Enquist: "Streichquartett"

Filigrane Verwebungen von Mensch und Musik

Detailaufnahme eines Cellos
Detailaufnahme eines Cellos © picture alliance / dpa / Lehtikuva Nukari
Von Gabriele von Arnim · 02.11.2015
Eine Cellistin und ein Bratschist haben ihre Kinder verloren. Seit dem Tod ihrer Söhne herrscht zwischen dem Paar Schweigen - nur wenn sie musizieren, kommunizieren sie. Das Buch "Streichquartett" von Anna Enquist startet als Psychodrama und endet als Gewaltthriller.
Es ist nicht das erste Mal, dass die niederländische Autorin Anna Enquist sich ein musikalisches Thema sucht, das ihrem Roman Halt gibt und ihren Figuren Heilung schenkt.
"Kontrapunkt" hieß das Buch, in das Enquist den tragischen Tod der eigenen Tochter hineinschrieb und dort ihre Protagonistin täglich Bachs Goldbergs Variationen üben ließ, um sich frohe Erinnerungen an das Damals herbeizuspielen, als sie so oft mit der kleinen Tochter auf dem Schoss am Klavier saß.
"Streichquartett" heißt der neue Roman und wieder ist es die Musik, die sanft und lebendig hineingleitet in die starre Einsamkeit der Trauer. Wieder haben zwei der Protagonisten – die Cellistin und der Bratschist des Quartetts – Kinder verloren. Die Eltern – er ist Geigenbauer, sie ist Ärztin – sind einzementiert in ihre Verzweiflung. Seit dem Tod der beiden Jungen herrscht Schweigen zwischen ihnen, manchmal auch Wut. Nur bei den Proben mit den Freunden sprechen Cello und Bratsche zueinander. Die beiden Geiger Hugo und Heleen versuchen zu helfen. Heleen ist Krankenschwester und Hugo Leiter einer Musikschule, die niemand mehr will. Was soll schon Kultur in einer Welt, in der events und action angesagt sind.
Über Trauer, Musik und übers Altwerden
Es ist ein Buch über Trauer und Musik, über zynische Politik, über Freundschaft und übers Altwerden. Denn der fünfte im Bunde, der zu seinem Kummer nicht gefragt wurde, ob er mitspielen wolle, ist ein ehemals berühmter Cellist, der jetzt – alt, krank und allein – unglücklich vor sich hinlebte, wenn es den kleinen arabischen Jungen nicht gäbe, der ihm hin und wieder hilft und ihm andächtig zuhört, wenn er das Cello spielt.
Er musste sich überwinden, den Jungen ins Haus zu lassen – er hat Angst vor der Welt da draußen und vor allem vor dem gnadenlosen Gesundheitssystem, das seine Inspizienten zu alten Menschen schickt, um zu prüfen, ob sie zurechtkommen. Wenn nicht, werden sie rüde in ein Heim eingewiesen.
Enquist hat die Mitglieder des Quartetts sowie den alten Cellisten im wachsamen Feinblick. Denn sie ist nicht nur ausgebildete Konzertpianistin, sondern auch Psychotherapeutin. Sie kennt sich aus in den Ecken und Nischen des menschlichen Gemüts – und in der Grabkammer der Trauer. Wie kann man weiterleben mit einem grausamen Verlust. Wie sollten, könnten andere sich verhalten? Gibt es überhaupt ein "richtiges" Verhalten?
Kluges Psychodrama endet als Gewaltthriller
Sie kann mitreißend schreiben über das Musizieren, wie es Lebendigkeit in betäubte Seelen bringt, wie das Loslassen der Welt und der Sorgen dem Spiel und dem Spieler gut tut.
Nach und nach bekommt der Panzer Risse, gibt es für den Mann die Freude an den Instrumenten, die er repariert und kann die Frau Zärtlichkeit empfinden, wenn sie Hugos dreijährige Tochter hütet.
Warum das kluge Psychodrama als Gewaltthriller enden muss, fragt man sich allerdings. Hat Anna Enquist ihren leisen Tönen nicht getraut? Und setzt ausgerechnet auf Action, die sie doch selbst so wortstark anprangert in ihrem Buch.
Mag sein, dass das für manche spannend zu lesen ist. Für andere sind es sicher die filigranen Verwebungen von Mensch und Musik, von Mensch und Mensch, die den Reiz dieses Romans ausmachen.

Anna Enquist: Streichquartett
Aus dem Niederländischen von Hanni Ehlers
Luchterhand Verlag, München 2015
288 Seiten, 19,99 Euro

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