Anja Utler: "kommen sehen. Lobgesang"

Klimakollaps in Langgedichten

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Buchcover zu Anja Utler: "kommen sehen. Lobgesang"
Gedichte mit großen Widerständigkeiten: der neue Lyrikband von Anja Utler. © Edition Korrespondenzen/Deutschlandradio
Von Björn Hayer · 16.09.2020
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Nach der Klima-Apokalypse: Anja Utlers Lyrikband "kommen sehen. Lobgesang" erzählt von einer düsteren Zukunft. Neben der Natur befinden sich Denken und Sprache in Auflösung. Eine "nervenraubende Lektüre", meint unser Kritiker.
Es ist zu spät, die Welt ist bereits untergegangen. Was bleibt, sind Erinnerungen an ein präapokalyptisches Damals sowie Eindrücke aus einer verwüsteten, aussichtslosen Gegenwart.
Anja Utler, die uns in eine fiktive Zukunft entführt, bindet unsere Aufmerksamkeit in ihrem Gedichtband "kommen sehen. Lobgesang" an die Perspektive einer älteren Dame. Ihrer Tochter berichtet sie von dem befürchteten Tod der Seele, von einem Lodern am Horizont, trockenem Sand in der Morgenluft und verschwundenen Tieren.
Die Ursache für die Entwicklungen: berstende Hitze durch die "Verdreifachte[] Sonne". Ist die Menschheit noch zu retten? Man hält sich an den naiven Versuch einer Wiedergeburt, ignoriert unbelehrbar die ökologischen Wahrheiten. Und so lautet die Bilanz ironisch: Das "unstrittig gegebene menschliche Hirn lag / auch in diesen Jahren weitgehend im Dunkeln".

Sätze, die zerlaufen

Dass der Klimakollaps nicht nur die Erde, sondern gleichsam eine Disruption von Wahrnehmung und Denken hervorruft, macht sich in den Langgedichten Utlers insbesondere in der spezifischen Verwendung großer Lücken bemerkbar. Sätze – stets ohne Interpunktion – brechen ab, zerlaufen förmlich vor den Augen von Leserinnen und Lesern.
Als könnte man über den Zerfall hinwegtäuschen, bedient sich das lyrische Ich immer wieder abgehalfterter Phrasen wie "Es gibt ein ganzes Leben für alle" oder "Nur Gemeinsam Hält es // Uns hier". Hinzu kommt das scheiternde Bemühen um eine Ordnung.
Gerade die rigide Strukturierung der Texte durch Zweizeiler folgt dabei dem Willen, die in Auflösung befindliche Welt zumindest sprachlich zusammenzuhalten – ein künstlicher Verzweiflungsakt, "weil Untergang […] immerzu un- / vollkommen ist".
Gewiss zeugen die poetischen Entwürfe der Wiener Autorin von Intelligenz in Sachen Formgestaltung. Drastisch führt Utler die Ohnmacht und Verdrängung des Menschen im Angesicht der Katastrophe vor Augen.
Was die Experimentallyrik jedoch zu einer nervenraubenden Lektüre verkommen lässt, ist deren abstrakte Gestaltung. Viele Gedichte bauen derartige Widerständigkeiten auf, dass sie kaum noch eine Mittelungsfunktion erfüllen. Nur ein Beispiel:
"Im Sog der gut entsumpft heißt drainierten Schichten zwischen
verdünnten Biota den Erden geeinzelten
Zehen wie Ex-Knospen in Umluft die knistert genau
so stecken in undurchbluteten Kirchen Rosetten
drin innerhalb eines bloß punktuell durchbluteten
Kosmos Die Kugelform annehmen jedes für sich heißt
Unterbrich mich nicht"

Bildliche Überfrachtung

Ein Sog von Schichten, verglichen mit Ex-Knospen, steckt in undurchbluteten Kirchen innerhalb eines kugelförmigen Kosmos? So what?!, fragt man sich nach diesen kryptischen Versen.
Die Sprunghaftigkeit und die bildliche Überfrachtung fördern eine Komposition zutage, die oftmals selbstgefällig und beliebig anmutet. Wie Utlers Gedichte, denen es weder an solidem lyrischem Handwerk noch einem Gefühl für den Zeitgeist mangelt, veranschaulichen, erweist sich ein Zuviel an Ambition nicht unbedingt als der beste Ratgeber.
Im Gegenteil: Konzentration und Stringenz hätten dem Band "kommen sehen. Lobgesang" sicherlich gutgetan.

Anja Utler: "kommen sehen. Lobgesang"
Edition Korrespondenzen, Wien 2020
128 Seiten, 18 Euro

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