Berliner Rede zur Poesie

"Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte"

52:47 Minuten
Die Schriftstellerin trägt ein Basecap und eine Brille und steht vor einer Glasfassade
Die kanadische Lyrikerin Anne Carson hielt auf dem Poesiefestival im Juni die Berliner Rede zur Poesie. © AP
Von Anne Carson · 14.06.2020
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Ein einzelner Pinselstrich schreibt keine zwei Zeichen, sagt ein chinesisches Sprichwort. Ein guter Fehler macht genau das, sagt Anne Carson. Die gefeierte kanadische Lyrikerin erzählt von Joseph Conrad, der Metapher und gekreuzten Beinen.
Die Berliner Rede zur Poesie von Anne Carson war einer der Höhepunkte auf dem Berliner Poesiefestival im Juni 2020. In ihr unternimmt die kanadische Dichterin 13 kürzere und längere Streifzüge zu "Einigen Worten". Ihre Stimme klingt so desillusioniert wie freundlich, die Geschichten sind locker und präzis, die geschilderten Ereignisse glaubwürdig und durchweg erfunden. Ein trockener Witz verbindet die Antike mit der eigenen Kindheit.

Die Toten gehen nicht rückwärts

Carson, Jahrgang 1950, lobt den Fehler wie den Irrtum. Sie entlarvt das Angstfundament von Regeln, zeigt, wie die Metapher das Denken inspiriert, und dass Zahlen die Wirklichkeit nicht in den Griff bekommen - wohl aber das "Schneestehen". Und die Erfahrung, die Spekulation sowie die Bereitschaft, Unvollkommenes zu akzeptieren. Oder beinahe Unbegriffenes wie die Abneigung des Kindes gegen die sonntägliche Reinigung in der kochend heißen Badewanne.
Die Gewährsmänner und –frauen dieser in Literatur und Empfindung, Sprache und Philosophie ambulierenden Poetin heißen Aristoteles und Hegels Schwester Christiane, Joseph Conrad und Carsons Freundin Martha. Auch Gustave Flaubert tritt auf und das Rückwärtsgehen, das die Mutter ihr verbat, weil die Toten so gehen würden.
Warum sie das zu wissen glaubte? Carson vermutet, ihre Mutter habe "eine schlechte Übersetzung" gelesen. Denn die Toten gingen doch hinter den Lebenden her, weiß die Tochter. Was das Rückwärtsgehen natürlich viel empfehlenswerter werden lässt.

Mäandern in offenem Gelände

Eine Schriftstellerin ist zu entdecken, die sich furchtlos aufmacht ins Unerschlossene und Unbegriffene. Eine, die sich mühelos in diesem offenen Gelände zu bewegen scheint mit Sätzen, die einem immer wieder ein Lächeln schenken - und einige Rätsel. Antworten bietet Anne Carson wenige, und ihre Poetologie sollen andere beschreiben. Sie nimmt einen mit auf Streifzüge, die mäandernd nichts auslassen links und rechts des Weges.
(pla)
Sprecherin: Simone Kabst
Ton: Hermann Leppich
Redaktion: Jörg Plath

Anne Carson: "Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte - Thirteen Ways of Looking at a Short Talk"
Aus dem Englischen übersetzt von Anja Utler
Wallstein Verlag, Göttingen 2020
52 Seiten, 13,90 Euro

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