Andreas Urs Sommer: "Werte"

Werte dienen nicht dem Wohl der Allgemeinheit

Demonstration von Journalisten und Journalistinnen im Rahmen der bundesweiten Aktion "Worte sind wertvoll" für Qualitätsjournalismus und den Journalistenstreik in Bielefeld: Lichtinstallation an der Fassade des ehemaligen "Volkswacht"-Hauses
Sind Werte nur religiös-konservatives Wunschdenken? © dpa / picture alliance / Daniel Bockwoldt
Von Eike Gebhardt · 04.07.2016
Der Philosoph Andreas Urs Sommers entlarvt in seinem Buch "Werte – Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt" Politiker-Sprüche über "gemeinsame Werte" als religiös-konservatives Wunschdenken. Nur eine zentrale Frage lässt der Autor selbst offen.
"Werte sind immer Werte für jemanden" - in solchen scheinbar harmlosen Formeln versteckt der Autor seine Sprengsätze. Denn wie der Untertitel sagt: Werte an sich gibt es gar nicht - etwas ist immer gut oder schlecht für jemanden, für einen Gegenstand bzw. einen Zustand; kurzum: Es gibt sie nur "im Verhältnis zu anderen Werten".
Das Talkshow- und Politiker-Geschwafel über "gemeinsame Werte" würde mit einem Schlag nüchterner ausfallen, zwänge man die Beteiligten, zuvor den kurzen Sommer-Text zu lesen. Werte würden oft beschworen, als gäbe es sie irgendwo da draußen, wie ein Objekt – sie würden nur dummerweise ignoriert. "Wertontologen" nennt Sommer solche – meist religiös-konservative – Wunschdenker.
Dabei müsste, angesichts der Wertevielfalt in der Welt, ja in der eigenen Gesellschaft, jedem klar sein, dass Werte von Menschen - ihrer Kultur und ihrem Selbstbild entsprechend - geschaffen wurden und damit auch wieder veränderbar sind. Und ja auch unaufhörlich sich verändern.
Zeitlose Werte könne es nicht geben und habe es nie gegeben: Das Menschenleben etwa war nicht immer heilig, Freiheit und Gleichheit sind keineswegs in allen Ländern wichtig, selbst Solidarität werde ja am ehesten geübt an Menschen, denen wir uns nahe fühlen – der beste Beleg, dass hier kein Wert sondern persönliches Interesse im Spiel ist.

Dienen Werte dem Wohl der Allgemeinheit?

Genau das aber erschwert die Wertediskussionen: Werte seien grundsätzlich Bewertungen, d.h. wir ziehen eine Sache einer anderen vor. Bewerten heiße Vergleichen. Das wiederum bedeutet, Werte hängen von der Perspektive des Bewertenden ab. Und das beantwortet auch ganz nebenbei die alte Frage, ob Werte Eigenschaften der Dinge seien oder ob sie ihnen angehängt werden - "der Banker versteht unter Freiheit etwas anderes als der Häftling".
Dienen sie dem Wohl der Allgemeinheit, also allen? Wohl kaum: "Das Wohl des Löwen ist das Un-Wohl der Antilope." Gerade im Konfliktfall aber zeigt sich der Wert der Werte – denn "der Widerstreit … wird weniger belastend empfunden als die drohende Wertleere, die Wertabstinenz".
Ihre Funktion sei gewissermaßen, dass sie die Streitkultur zur Regel machen. Und da es keine natürlichen Gewinner gibt – seit der Aufklärung gibt es ja keine allgemein anerkannte höhere Instanz mehr, die bestimmte Werte legitimiert, andere diskreditiert - , bleibe Menschen nur, die Werte unaufhörlich zu verhandeln. Mit offenem Ende und womöglich einer Werteinflation. Kein Verlust, denn neue Lebenslagen fordern neue Orientierungen.

Folgeband hoffentlich bereits in Arbeit

"Eine Vermehrung der Werte verfeinert unseren Wirklichkeitsbegriff", glaubt Sommer – Wertepluralismus sei gesund, jeder Monotheismus, auch Wertemonismus vergewaltige Denken, Erkenntnis und Erfahrung.
Leider lässt Sommer eine ganz zentrale Frage, die er selber aufwirft, weithin brach liegen; "Was erleiden Menschen, die Werten unterworfen sind?" Die nur Gehorsam gelernt haben, also wie Roboter die gerade geltenden Werte nur vollstrecken sollen?
"Die Sozial- und Psychogeschichte der Werte-Erziehungstraumata ist noch nicht geschrieben worden," seufzt der Autor selber – der Folgeband ist also hoffentlich bereits in Arbeit.

Andreas Urs Sommer: "Werte – Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt"
Metzler 2016
19,95 Euro

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