Alexander Osang: "Das Leben der Elena Silber"

"Was sind eigentlich meine Dämonen?"

12:46 Minuten
Der Journalist Alexander Osang bei einer Lesung aus seinem Buch "Im naechsten Leben" im Deutschen Theater Berlin.
Alexander Osang im Rahmen einer Lesung im Deutschen Theater in Berlin. © picture alliance/Eventpress
Moderation: Frank Meyer · 12.08.2019
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Es sei sein grundsätzlichstes und privatestes Buch, sagt Alexander Osang über "Das Leben der Elena Silber". Darin verarbeitet er die Biografie seiner Großmutter und Familie. Er fragte sich: Warum sind wir, wie wir sind?
Frank Meyer: Wir haben ein mächtiges Buch auf dem Tisch, 600 Seiten stark, ein Buch, das in Russland und in der Sowjetunion spielt, in Deutschland, von den 1940er-Jahren bis heute. Man folgt mit diesem Roman einer Frau und ihren Töchtern durch das 20. Jahrhundert. Es ist eine sehr bewegende, aufrührende Erfahrung, dieses Buch zu lesen. "Die Leben der Elena Silber" heißt der Roman. Alexander Osang hat ihn geschrieben.
Das ist Ihr fünfter Roman. Sie schaffen es wundersamer Weise, neben Ihrer normalen Arbeit solche Bücher zu schreiben. Sie sind zurzeit Korrespondent für den "Spiegel" in Israel. Vorher waren Sie acht Jahre lang für den "Spiegel" in New York. Haben Sie jetzt diesen Roman vor allem in Tel Aviv geschrieben?
Osang: Nein, der beschäftigt mich schon länger. Der beschäftigt mich bestimmt, schwer zu sagen, vielleicht 20, 15, 10 Jahre trage ich den mit mir rum. Und die Recherchen haben auch schon im Prinzip in der Zeit begonnen, als mein letzter Roman erschien und seitdem. Dann gab es ein paar Schreibversuche. Es hat mich ziemlich viel Zeit gekostet. Das ist ein sehr, sehr privates Buch und hat sehr viel mit mir zu tun. Und es ist auch ein sehr umfängliches Buch, vielleicht das grundsätzlichste und privateste Buch, was ich bisher überhaupt geschrieben habe. An dem arbeite ich schon längere Zeit, und in Israel habe ich nun sozusagen die letzten Striche gemacht.

Ein donnernder Eröffnungssatz

Meyer: Wenn man das Buch aufschlägt, liest man zuerst, wenn man eigentlich einen Text anfängt, einen ungeheuerlichen Satz, ich lese den mal vor: "Sina Krasnowa schob die letzten Scheite in den Ofen, als sie draußen in der Stadt ihrem Mann einen Holzpfahl in die Brust schlugen." Wie sind Sie denn zu diesen ersten Satz gekommen, von diesem Mann, dem man einen Holzpfahl in die Brust schlägt?
Osang: Meine Bücher bisher haben sich immer auseinandergesetzt mit dieser Wendeerfahrung, sozusagen diesen Verletzungen und Verwundungen und Prägungen durch diesen Bruch in der Wende und auch meinem Leben in zwei verschiedenen Gesellschaftsordnungen. Ich habe immer gewusst und zunehmend gespürt, dass meine Prägungen weitaus tiefer gehen, und auch die Prägung und die Probleme, mit denen wir auch in unserer Gesellschaft zu tun haben, haben schon mit dieser Zeit und auch mit diesen letzten 30 Jahren zu tun. Aber sie sind tiefer, zumindest bei mir ist das so, und ich habe auch gemerkt, dass ich mich ungern nur darauf reduzieren lasse.
Dieser Anstoß hat natürlich wirklich was Autobiografisches. Mein Urgroßvater ist wirklich auf diese Art und Weise ermordet worden Anfang des vorigen Jahrhunderts. Die Geschichte, die mir meine Großmutter, also die Tochter dieses Mannes, erzählt hat, die habe ich eigentlich nur als alte Frau kennengelernt. Und ich habe mich immer mehr gefragt: Wie ist die eigentlich durch ihr Leben gekommen? Wieso sind meine Tanten und meine Mutter und die Familie, so wie sie ist? Was sind eigentlich meine Dämonen? Ich habe mich dann von der eigentlichen Familiengeschichte entfernt, aber dieser Initial kommt wirklich aus meiner Familie. Wie viel hat eigentlich damit zu tun, mit dieser unglaublichen schrecklichen Tat Anfang des Jahrhunderts? Wie viel ist davon noch da heute? Deswegen dieser Satz, damit fing alles an.

Die Großmutter als Romanfigur

Meyer: Das war im Jahr 1905. In dem Roman wird es so erzählt. Das wäre jetzt Ihr Urgroßvater, wenn man es übersetzt, dass er ein Revolutionär war und dann von der zaristischen Geheimpolizei oder von Leuten, die von denen aufgestachelt werden, umgebracht wird, weil er ein Revolutionär ist. So ungefähr ist die Konstellation.
Osang: Genau.
Meyer: Was wussten Sie eigentlich, bevor Sie angefangen haben, sich in diese Geschichte Ihrer Familie zu vertiefen? Sie haben schon gesagt, Sie kannten Ihre Großmutter als alte Frau und ihre Erzählungen?
Osang: Genau. Also, ich kannte die Erzählungen, ich kenne die Mythen. In unserer Familie, wie in jeder Familie, baut sich jeder seine eigenen Legenden zurecht, sein eigenes kleines Fundament, auf dem er sein Leben errichtet. Das ist, was mich interessiert hat: Was sind die Traditionen, in denen wir uns wohlfühlen? Es ist natürlich toll, sich in der Tradition, in die Fußstapfen eines Revolutionärs von Anfang des vorigen Jahrhunderts zu bewegen, zumindest war es lange Zeit ein tolles Gefühl, sich in dessen Schatten zu bewegen. Darum ging es mir.
Es gab diesen Ausgangspunkt. Ich kannte meine Großmutter als alte Frau. Ich war noch sehr jung, als sie gestorben ist. Ich habe weniger in der Familie recherchiert. Ich habe auch überlegt, ob ich ein Sachbuch schreibe. Davon bin ich dann weggekommen nach verschiedenen Recherchen, weil mich die Grundkonstellation mehr interessiert hat. Wie kann eine Familie durch so ein Erlebnis am Ende zerstört werden? Wie sind diese Verletzungen, wie geht man mit diesen Verletzungen um, all diese Dinge. Meine Recherchen gingen dann eher in die Geschichte, also sozusagen, um Boden zu kriegen. Wie sieht der Ort aus, in dem meine Großmutter lebte? Da war ich im Winter und einmal im Sommer, um zu sehen, wie ist da die Luft, wie kalt wird es da, wie sehen die Häuser aus?

Schauplatz ist eine Landschaft, von Flüssen geprägt

Meyer: Das ist Gorbatow, eine kleine Stadt östlich von Moskau in Russland.
Osang: 400 Kilometer östlich von Moskau, an Riesenflüssen gelegen: an einem Riesenfluss, die Oka fließt da, die dann 80 Kilometer in die Wolga, in einen noch größeren Fluss mündet. Eine Landschaft, die sehr stark von den Flüssen geprägt ist. Die nächste große Stadt ist Nischni Nowgorod, war die viertgrößte Stadt Russlands. In der Sowjetunion war es Gorki dann, auch ein wichtiger Mann, Gorki, auch die Stadt wichtig, weil sie gesperrt war. All diese Dinge habe ich mir angeguckt, um ein Gefühl dafür zu bekommen für die Größe des Landes, die Größe der Flüsse, die Sehnsüchte vielleicht auch, die diese Frau, also meine Romanfigur, die relativ schnell wirklich eine Romanfigur wurde, gespürt haben könnte als junge Frau, als Mädchen.
Meyer: Wir haben eben schon kurz gesprochen über die Welt, aus der Elena Silber kam. Russland vor der Revolution, der brutale Tod ihres Vaters dort. Es gibt einen ganz entscheidenden Wendepunkt im Leben von Elena, Ihrer Romanfigur. 1923 lernt sie Robert Silber kennen, der wurde von den deutschen Kommunisten in die junge Sowjetunion geschickt, um da beim Aufbau der Wirtschaft zu helfen. Das ist jedenfalls eine Lesart seiner Motive, seiner Geschichte, und Elena entschließt sich als junge Frau mit Anfang 20, sich diesen Deutschen an Land zu ziehen. Das ist offenbar nicht die große tiefe Liebe, sondern durchaus auch ein Kalkül dahinter. Warum wollte diese junge Russin damals mit diesen Deutschen zusammenkommen?
Osang: Er war sozusagen ein Versprechen auf eine Reise aus ihren Verhältnissen. Sie war nicht glücklich, sie hat diese schlimmen Erlebnisse, sie hat auch einen Stiefvater, der ein relativ unangenehmer Mann ist, um es mal so zu sagen. Sie möchte raus. Sie hat eine Liebe, die auch nicht besonders glücklich ist, und sie will dieses Leben, dieses ärmliche, enge Leben verlassen. Der Deutsche kommt, super frisiert. Er ist eher kein Kommunist, sondern Lenin hat damals die neue ökonomische Politik ausgerufen, so hieß das. Er wollte die imperialistische Technologie ins Land holen. Der ist mit einem Papier der Deutschen Handelskammer dahingekommen, um eine Textilfabrik aufzubauen, und da lernen die sich kennen. Er riecht gut, er hat gute Manieren, verglichen auch mit den Russen, also mit den Funktionären, mit denen sie da zu tun hat, er ist belesen. Genau, sie kauft sich diese Karte, eine Fahrkarte.

Fremdheitserfahrung überall

Meyer: Sie kommt dann nach Deutschland erst in der Nazizeit und später nach dem Krieg nach Ostberlin und lebt dann ihr ganzes noch sehr langes Leben in Ostberlin. Aber so, wie Sie von ihr erzählen, wird sie eigentlich nie heimisch dort in diesem Teil Deutschlands. Was hat das verhindert, dass sie dort angekommen ist?
Osang: Sie bleibt eine Fremde. Sie rennt ja eigentlich ihr ganzes Leben lang weg. Sie rennt weg, erst vor diesen Zarentruppen, dann später vor Stalin, landet 1936 ausgerechnet während der Olympischen Spiele in Berlin. Und kommt dann nach Ostberlin unter Fremden. Sie bleibt eigentlich immer die Russin. Sie hat diesen starken Akzent, sie hat diese große Liebe, der in der Roten Armee Karriere macht, dem sie auch wieder begegnet. Aber auch der bleibt ihr am Ende irgendwie fremd. Sie versucht dann noch mal nach Russland zu kommen. Sie bleibt in der Sowjetunion, sie darf gar nicht mehr in ihre Heimatstadt zurück, weil die gesperrt ist wegen Waffenproduktion. Sie trägt auch diese Geheimnisse mit sich herum.
Ihr Mann verschwindet unter nie geklärten Umständen. Die Männer verschwinden alle irgendwie. Sie beschließt Mutter zu sein für ihre vier Töchter. Sie hat ursprünglich fünf Töchter und eins stirbt, ein Mädchen, ganz früh. Sie möchte für die vier Töchter da sein und beschließt, sozusagen dieses Leben in der Fremde zu leben, weil sie eigentlich keine Heimat hat, umgeben von ihr komplett fremden Menschen, die in einer fremden Sprache zu ihr sprechen.

Gewalterfahrungen werden weitergegeben

Meyer: Besonders interessant fand ich in dem Roman, wie Sie schildern, dass diese Erfahrung einerseits von Fremdheit, aber auch von Gewalt, die diese Frau, die aus Russland kommt, mit sich herumträgt, die sie auch in Deutschland erlebt hat dann während der Nazizeit, wie das weitergegeben wird, auch an ihre vier Töchter und auch wiederum an die Enkel, die alle unglücklich sind in ihrem Leben, mit sich selbst, mit den Menschen um sie herum, nicht zurechtkommen. Ist das auch Ihre Erfahrung, dass das so weitergegeben wird in Familien, solche historischen Gewalterfahrungen?
Osang: Ich glaube ja. Das muss jeder für sich selbst beantworten. Ich, wie gesagt, glaube, dass Dinge, die ich mit mir rumschleppe – ich weiß nicht, ob man von Dämonen sprechen kann, aber zumindest von Selbstzweifeln, von Schwierigkeiten, alle möglichen Arten von Beziehung zu leben –, damit zu tun haben, also mit Erfahrungen, die Generationen vor mir gemacht worden sind. Auch ein tiefes Gefühl von Fremdheit in der Gesellschaft kann einem weitervermittelt werden. Zumindest in der ersten Generation ist auch dieser Streit, diese Konkurrenz, die ist extrem da, die habe ich auch in meiner Familie immer gespürt. Es gibt ja einen zweiten Helden in diesem Buch neben Elena, und das ist sozusagen ein Mann, der etwa zehn Jahre jünger ist als ich und der sich mit diesen Dingen auch in seinem Leben hier rumschleppt, die macht dieser Mann auch, also der Schwierigkeiten hat in allen möglichen Beziehungen und auch ein Gefühl von Fremdheit. Das Buch ist auch komisch an vielen Stellen. Diese Verzweiflung hat natürlich auch tragikomische Züge.
Meyer: Es ist auch ein Blick über die persönliche Geschichte und die Romangeschichte hinaus auf Ostdeutschland heute und wie die ganze Gesellschaft vielleicht noch die Lasten der Vergangenheit mit sich herumträgt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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