Alexander Kluge: "Russland-Kontainer"

Ein Blick in die Tiefe des Raumes

05:21 Minuten
Das Cover von Alexander Kluges “Russland-Kontainer” vor Deutschlandfunk Kultur Hintergrund.
Alexander Kluge: “Russland-Kontainer”. © Suhrkamp / Deutschlandradio
Von Tobias Lehmkuhl · 12.06.2020
Audio herunterladen
Alexander Kluges "Russland-Kontainer" ist Zeitkapsel und Wundertüte zugleich. Ergänzt durch Filmstills, Grafiken und Fotos erzählt er ein Jahrhundert russischer Geschichte. Und man fragt sich verwundert: Wo gräbt er all diese Dinge aus?
Man könnte Alexander Kluges "Russland-Kontainer" als eine Art Gegenstück seines Buches über den 30. April 1945 auffassen. 2014 veröffentlicht, trug es den Untertitel: "Der Tag, dem sich Hitler erschoß und die Westbindung der Deutschen begann". Auch mit dem "Russland-Kontainer" geht es Kluge, nun eben aus östlicher Perspektive, erklärtermaßen darum, dem näherzukommen, "was mich verwirrt an meinen eigenen Land und was ich an meinen unmittelbaren Erfahrungen nicht verstehe, indem ich von einem fremden Land erzähle".
Neugierde, Wissensdurst, Erzählen: In diesem magischen Dreieck bewegt sich Alexander Kluge seit jeher. Und wie immer staunt der Leser: Woher weiß Kluge das alles, wo gräbt er all diese Geschichten aus, von denen man noch nie gehört hat, von denen man aber offenbar leicht hätte hören oder lesen können? Beispielsweise die des Dr. Sedow, der Ende der zwanziger Jahre den Plan entwirft, hinter dem Ural ein riesiges Binnenmeer zu schaffen, ein Visionär der Revolution, der, wie so viele andere, wenige Jahre später dem Großen Terror zum Opfer fällt.

Verschiebung der Kontinente

Nichts fasziniert Kluge so wie die himmelsstürmenden Utopien des 20. Jahrhunderts, die gesellschaftlichen Utopien einerseits, andererseits aber auch die ganz wörtlich sich auf dem Himmel richtenden Zukunftsvisionen, die Raumfahrt und die Erkundung naher und ferner Galaxien. Wohl kein anderer deutscher Schriftsteller blickt derart tief in den Raum wie Kluge.
Raum bedeutet hier zugleich Zeit, Urzeit, Lebenszeit, Halbwertszeit. Die sprichwörtliche Weite Russlands wird relativiert durch die Milliarden Jahre, die es unsere Welt gibt. Und so ist der "Russland-Kontainer" eine Zeitkapsel. Er enthält Nachricht von den Sternen, von der Verschiebung der Kontinente, vom Bussard, der über sein Planquadrat wacht, die Zeit mit seinen Körpersäften misst und genau weiß, wann er die Waldmaus schlägt.

Eisenstein trifft Joyce

Kluges Werk ist vor allem dieses: Eine Auseinandersetzung mit den Umbruchmomenten, dem Auseinanderdriften der Kontinente, mit der Revolution von 1917, dem Terror von 1937, dem Großen Krieg, Chruschtschows und Gorbatschows Reformen.
Der Name Breschnew fällt im umfangreichen "Russland-Kontainer" bezeichnenderweise kein einziges Mal. Dafür finden sich zahlreiche Abbildungen: Fotos, Grafiken, Filmstills. Denn natürlich spielt das Kino wie immer beim Erzähler und Filmemacher Kluge eine wichtige Rolle. So berichtet er von der Begegnung des Regisseurs Sergej Eisenstein mit James Joyce in Paris, und von Eisensteins Plan, die Struktur von Joyce’ "Ulysses" für seine Verfilmung des Marx’schen "Kapitals" zu übernehmen.
Klingt fantastisch, ist aber eine wahre Geschichte. Man kann sie weiterverfolgen, scannt man einen der vielen QR-Codes in den Anmerkungen des Bandes. Sie alle verlinken auf Filme von Kluge, die Themen des Buches aufgreifen. So umfasst dieses Buch nicht nur den Raum von 448 Seiten, sondern auch Stunden über Stunden an Filmzeit. Der Kontainer als Wundertüte.
Alexander Kluge: "Russland-Kontainer"
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
448 Seiten, 34 Euro
Mehr zum Thema