Alex Rühle: "Europa - wo bist du?"

Per Interrail auf der Suche nach der EU

11:26 Minuten
Ein Interrail-Pass liegt auf dem Tisch. Jedes Jahr werden Tickets an 18-jährige Jugendliche verlost, damit sie ihren Kontinent erkunden können.
Mit dem Interrail-Pass brach Alex Rühle zu einer Rundreise durch die EU auf – wie vor ihm schon Millionen von Europäerinnen und Europäern. © picture alliance / pressefoto_korb / Micha Korb
Alex Rühle im Gespräch mit Andrea Gerk · 22.11.2022
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Die EU balanciert auf einem schmalen Grat, Nationalismus gewinnt die Oberhand und an der EU-Ostgrenze wütet ein Krieg. Journalist Alex Rühle machte sich auf die Suche nach dem, was vom europäischen Gedanken noch übrig ist.
Um Europa kennenzulernen, braucht es nicht viel. Ein Interrailticket und ein bisschen Neugier  – Neugier darauf zu erfahren, was "Europa" eigentlich bedeutet, genauer gesagt: die Europäische Union.
Alex Rühle, Journalist bei der "Süddeutschen Zeitung", wollte es genauer wissen, packte seinen Rucksack, kaufte sein Bahnticket, fuhr los und erkundete die Europäische Union in allen Himmelsrichtungen: in Portugal, Italien, Griechenland, Finnland oder Ungarn.

Die große Freiheit

Er startete seine Reise, als Russland gerade die Ukraine angegriffen hatte, erlebte also ein Europa im Ausnahmezustand. Was er sah und hörte, beschreibt er in seinem Buch "Europa - wo bist du?"
Porträtfoto des Journalisten und Autors Alex Rühle. Er trägt einen dunklen Pullover und steht vor einer hellgrauen Holzwand.
Die EU verschleudert ihren Errungenschaften an Länder wie Ungarn, die das nicht zu schätzen wissen und den europäischen Gedanken verhöhnen, findet SZ-Journalist Alex Rühle.© Heike Bogenberger
Wer zu den Generationen X, Y und Z gehört, und in Westdeutschland beziehungsweise nach der Wende aufgewachsen ist, kennt kein Leben ohne EU und ihre Vorläuferinnen EWG und EG, hat vielleicht vom Studierenden-Austauschprogramm Erasmus profitiert, hat sich noch als Schülerin und Schüler sein erstes Interrailticket gekauft, um von der großen Freiheit zu kosten: Rund 4200 Kilometer legt man zurück, wenn man mit öffentlichen Verkehrsmitteln einmal von West nach Ost, von Lissabon nach Tallin fährt. Von Finnland bis in den Süden Griechenlands ist man noch deutlich länger unterwegs.

Das Konstrukt EU ist etwas Besonderes

Für die meisten von uns ist die Existenz der EU etwas Selbstverständliches. Dass sich eine stetig wachsende Zahl unabhängiger Staaten zu einer politischen und wirtschaftlichen und auch Werte-Union zusammenfindet, in der seit vielen Jahrzehnten ein Leben in Frieden gelingt, ist aber keineswegs selbstverständlich, sondern, im Gegenteil, etwas Besonderes. Und die Konflikte in der EU, der sich ausbreitende Rechtsnationalismus speziell in Ungarn und Polen, der politische und bürgerliche Freiheiten aushebelt, sind der beste Beleg dafür.
Rühle, der sich selbst als begeisterter Europäer sieht, war besonders in Ungarn erschüttert, wie weit der nationalistische Größenwahn eines Viktor Orbán schon gediehen ist - und wie schon Schulkinder indoktriniert und auf Linie gebracht werden.

Orbán mit dem Baseballschläger

Zorn empfindet er darüber, dass die EU-Kommission Orbán nicht deutlicher in die Schranken weist. "Es ist unglaublich, dass sie ihn immer noch pampern, und er wird auch nächste Woche wieder sein Geld bekommen." Der EU wirft er blinden Narzissmus vor.
"Das ist so was Gutes, was wir hier haben. Die konnten sich nicht vorstellen, dass jemand reinkommt und dann nicht dankbar ist und sich nicht an die Spielregeln hält und stattdessen mit einem Baseballschläger darin herumläuft – und nichts außer empörten Blicken erntet."
Um besser begreifen zu können, was die EU ist und bedeutet, sollten Schulkinder schon früh mit Europakunde im Sozialkundeunterricht konfrontiert werden, findet der Journalist, der seit Kurzem als SZ--Korrespondent in Norwegen lebt und arbeitet.

Europa ist da, wo gute Europäer sind

So wie in Finnland, das für Rühle ein großes Vorbild in der Schulbildung ist: Wie dort Geld in Bildung investiert und versucht werde, alle Kinder mitzunehmen, sei großartig.
Wo noch hat Rühle auf seiner Reise ein Europa im besten Sinne gefunden? "Das findet man überall dort, wo man gute Europäer findet: Wie einen Armenarzt in Athen, der sich um all die kümmert, die keine Versicherung haben", lautet seine Antwort. "Oder wie Leute in Lissabon, die versuchen, den Lissabonnern ihre Stadt zu retten, die ihnen von Airbnb unterm Arsch weggeklaut wird."

Alex Rühle: "Europa - wo bist du?"
dtv Verlag, 2022
416 Seiten, 25 Euro

Seine Empfehlung heute an alle EU-Bürgerinnen und -bürger: "Vielleicht sollten wir alle mal so eine Reise machen. Und fahrt am besten zu den weißen Flecken auf eurer Landkarte!"
Sprich: Reist nach Rumänien oder ins Baltikum und schaut euch dort die Menschen und das Leben an, statt immer nur nach Italien zu reisen. Vielleicht würden dann viele besser verstehen, was gerade auf dem Spiel steht.
(mkn)
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