Robert Menasse: "Die Erweiterung"

Für ein nachnationales Europa

10:43 Minuten
Robert Menasse blickt nach vorne gelehnt in die Kamera
Robert Menasse hat viel Zeit in Brüssel und dem Westbalkan verbracht. © Rafaela Pröll / Suhrkamp Verlag
Robert Menasse im Gespräch mit Joachim Scholl · 20.10.2022
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2017 gewann Robert Menasse den Deutschen Buchpreis für "Die Hauptstadt". Jetzt erscheint der Nachfolger "Die Erweiterung". Es geht wieder um Europa, aber dieses Mal nicht um Brüssel, sondern um die westlichen Balkanstaaten, vor allem Albanien.
In seinem prämierten Roman "Die Hauptstadt" widmete sich der Wiener Autor Robert Menasse dem Innenleben der EU. Doch was ist mit den Ländern, die aktuell noch nicht Mitglied der Europäischen Union sind?
Gerade in den Balkanstaaten gibt es Bestrebungen zum Beitritt – und genau denen widmet sich "Die Erweiterung". Im Fokus steht dabei Albanien, wo aktuell 90 Prozent der Bevölkerung für einen EU-Beitritt seien – das sei mehr Zustimmung als in jedem aktuellen Mitgliedsstaat.
Für die Recherche ist Menasse oft und auch für längere Zeiträume in die Region gereist: "Ich finde, es sollte uns grundsätzlich interessieren, die Kulturen, die Mentalitäten, die Traditionen, die Geschichte, die Hoffnungen dieser Länder, die früher oder später Teil unserer Einheit sein werden, kennenzulernen. Und die Politik dort wird Teil unserer Innenpolitik. Darum, habe ich mir gedacht, muss man sich das anschauen."
Obwohl der Fokus diesmal auf Osteuropa liegt, spielt auch Brüssel eine große Rolle. Genauer: Die real existierende Generaldirektion für europäische Nachbarschaftspolitik und Erweiterungsverhandlungen, speziell die Direktion D, zuständig für die westlichen Balkanstaaten. Menasse scheint in seinen Recherchen nämlich zu einer Art Experte für die EU geworden.

"Ich habe vier Jahre in Brüssel gelebt und sehr viele Menschen – auch die, die in der Kommission arbeiten – kennengelernt. Dabei habe ich gelernt, dass die in der Kommission meine Freunde sind und die im Rat nicht meine Freunde sind: In der Welt der Kommission wird versucht, europäische Politik zu machen; im Rat wird versucht, es aus nationalen Interessen zu verhindern."

"Wir erleben eine Renationalisierung der Mitgliedsstaaten"

Der Schriftsteller ist der Meinung, dass alle versuchen sollten, zumindest so viel über die EU zu verstehen, wie man auch über nationale Politik weiß. Schließlich gebe es auch da interessante Verästelungen und Strukturen. Viel wichtiger sei jedoch, das, was geschieht, an der europäischen Idee zu messen.

"Die Idee ist, nach den Erfahrungen mit dem Nationalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nach der Mörder-Geschichte des Nationalismus, ein nachnationales, geeintes Europa aufzubauen."

Doch gerade erlebten wir die Renationalisierung der Mitgliedsstaaten, sagt Menasse: "Das ist Skandal genug", meint der Autor. "Und man sollte sich selbst fragen: Will man das? Oder will man doch in einem friedlichen, geeinten Europa leben – aber dann müssen wir anders politisch reagieren."

Robert Menasse: "Die Erweiterung"
Suhrkamp, Berlin
653 Seiten, 28 Euro

(hte)
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