Alea Horst: „Manchmal male ich ein Haus für uns. Europas vergessene Kinder"
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Leben in einer endlosen Warteschleife
05:29 Minuten

Alea Horst
"Manchmal male ich ein Haus für uns. Europas vergessene Kinder"Klett Kinderbuch, Leipzig 202280 Seiten
16,00 Euro
Wer verfolgt wird, erhält Asyl. Darauf ist Europa stolz. Doch was es für die Geflüchteten konkret bedeutet, das wissen die wenigsten. Alea Horst hat 22 Kinder in griechischen Flüchtlingslagern besucht und erzählt ihre Geschichten.
„Mein Traum für ein gutes Leben ist vorbei“, sagt Raghad. Die 14-jährige ist eine von insgesamt 22 Mädchen und Jungen, die die Fotografin Alea Horst in diesem beeindruckenden Fotobuch vorstellt. Raghad stammt wie viele dieser Kinder aus Syrien. Das Mädchen mit den großen braunen Augen und dem weißen Fransenkopftuch hat in ihrem Leben genau für ein Jahr eine Schule besucht. Seit ihrer Ankunft auf Lesbos lebt sie zusammen mit ihrer Familie in einem winzigen Zelt, das sie kaum verlässt, in einem Lager zwischen Stacheldraht und Zäunen.
Was für die meisten Kinder in unserer Gesellschaft selbstverständlich ist – eine Wohnung, ein Bad, eine Toilette –, das gibt es für Kinder wie Raghad nicht mehr. Sie sind heimatlos. Ihnen fehlt jede Struktur. Sie haben nichts, können nur warten.
Dieses Eingesperrtsein, dieses Ausgeliefertsein hat Folgen: „Es gibt keine Medizin gegen diesen Ort hier, der die Menschen krank macht“, sagt Raghad. Der elfjährige Fares weiß nicht mehr, wie spielen geht. Seit der Flucht hat er Schwierigkeiten mit „den Gedanken“, sagt er. Und Qutbuddin, acht Jahre alt, erzählt, dass er immer wieder davon träumt, ins Gefängnis zu müssen oder auf dem Meer unterzugehen.
Trauer und Verlust eint diese 22 Kinder
Trauer und Verlust ist das, was alle Kinder in diesem Buch eint: egal ob sie sechs Jahre oder 14 Jahren alt sind, egal ob sie aus Afghanistan, Syrien oder dem Kongo stammen. Sie alle sind aus ihrer Heimat geflüchtet, haben dabei Schreckliches erlebt und warten jetzt im Flüchtlingslager auf Lesbos auf die Bewilligung ihres Asylantrags.
Diese 22 Kinder und ihre Geschichten, die auf einer großen Doppelseite plus Foto gezeigt werden, machen schmerzhaft bewusst, was es wirklich bedeutet, Flüchtling zu sein, wie es sich anfühlt, nicht gewollt zu werden und zum Warten verdammt zu sein. „Ich möchte kein Flüchtling sein. Ich habe mir das nicht ausgesucht“, heißt es an mehreren Stellen im Buch.
Ungeschönte Innenansicht
Es ist eine ungeschönte Innenansicht in ein Leben, das die meisten von uns nur aus flüchtigen Nachrichtenbildern kennen, das viele von uns auch allzu gerne verdrängen.
Neben den Texten hat Alea Horst die Kinder dann noch in großformatigen Porträts fotografiert. Die Kinder stehen damit im Fokus: ihre Blicke, ihr seltenes Lachen, ihre Körperhaltung. Meist sieht man sie allein im Zelt auf Kissen sitzen. Möbel sieht man keine, dafür viele provisorische Gebilde: Tüten etwa anstelle von Regalen.
Ab und an gibt es auch Geschwisterbilder, von Prince und Gloire etwa. Die beiden Jungen, die mit ihren ernsten Gesichtern älter aussehen als sie sind, träumen davon, irgendwann so reich zu sein, dass sie ein kleines Dorf bauen könnten, mit Häusern für ihre Familie und Freunde.
Beeindruckend und aufwühlend
Entstanden ist so ein beeindruckendes Buch. Eins, das aufwühlt, zeigt es doch, wo Menschlichkeit aufhört – in den Lagern –, und dass Hilfeleisten mehr heißen muss, als ein Zelt zur Verfügung zu stellen. Darüber hinaus macht Ales Horst deutlich, dass Globalisierung nicht für alle Menschen die gleichen Freiheiten bringt, denn nicht jeder kann Grenzen so überwinden wie etwa ein Europäer*in. Mehr noch, sie weist darauf hin, wie brüchig das Versprechen auf Asyl ist. Denn wenn ein traumatisiertes Kind kein Recht auf Schutz hat, wer dann?
Ende 2020 waren 82,4 Millionen Menschen auf der Flucht, über 42 Prozent davon waren Mädchen und Jungen unter 18 Jahren. Über sie ins Gespräch zu kommen, dabei hilft dieses Buch. Denn auch dazu sind Kinderbücher da: auch schon junge Menschen mit in die Gestaltung unserer Zukunft miteinzubeziehen.