Afonso Reis Cabral

"Literatur ermöglicht die Entdeckung des Anderen"

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Porträt des portugiesischen Autoren Afonso Cabral Reis, 2014.
Afonso Reis Cabral tritt in die Fußstapfen seines Ururgroßvaters, den Vater des modernen portugiesischen Romans. © imago / GlobalImagens / Carlos Manuel Martins
Von Tilo Wagner · 15.04.2021
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Afonso Reis Cabrals feinfühlig erzählter Roman "Aber wir lieben dich" basiert auf einer realen Geschichte. Die Mörder einer Transsexuellen waren kaum älter als er. Doch seine Kindheit verlief ganz anders.
Afonso Reis Cabral sitzt auf einer Bank im Estrela-Park in Lissabon. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen vorbei, in den Baumkronen kreischen Papageien. Vor 150 Jahren gab es hier noch einen Käfig mit einem Löwen – ein Symbol für die afrikanischen Wurzeln des portugiesischen Kolonialismus.

Ermutigung durch die Eltern

Damals begann Cabrals Ururgroßvater, der Schriftsteller Eça de Queiroz, seine herausragende literarische Karriere: Er gilt als der Vater des modernen portugiesischen Romans. Für Afonso Cabral war dieses Familienerbe ein Segen. Seine Eltern ermutigten ihn schon im Kindesalter, den Traum vom Schriftstellerdasein konsequent zu verwirklichen. Und es war trotzdem auch ein Fluch, weil Cabral seit der Publikation seines ersten Romans ständig mit seinem Ururgroßvater konfrontiert wird.
"Auf die eine oder andere Weise stammt die ganze portugiesische Literatur von Eça de Queiroz ab. Und diese Einschätzung ist viel wichtiger als ein genetischer Zufall, über den ich gar keine Kontrolle habe. Deshalb gab es eine Phase in meinem Leben, in der ich mich über die Vergleiche mit meinem Ururgroßvater aufgeregt habe. Ich wollte nicht damit konfrontiert werden, vor allem, weil ich die Notwendigkeit spürte, zu erklären, was mein eigenes Projekt ist."

Ein realer Fall

Das hat mittlerweile Konturen angenommen. Im Jahr 2014 gewann der damals 24-Jährige mit seinem Debütroman gleich den Prémio Leya – einen der renommiertesten und hoch dotiertesten Literaturpreise der portugiesischsprachigen Welt.
Vor zwei Jahren publizierte Cabral einen Reisebericht über seine knapp 740 Kilometer lange Wanderung von Nord- nach Südportugal. Und zwischendrin erschien "Pão de Açúcar", der Roman, der nun unter dem Titel "Aber wir lieben dich" auf Deutsch erschienen ist.
Das Buch basiert auf einem realen Fall, der Portugal im Februar 2006 erschütterte: Eine Gruppe von Jugendlichen aus einem Heim in Porto schlug eine schwerkranke brasilianische Transsexuelle fast zu Tode und warf den noch lebenden Körper in das Wasserloch einer Bauruine.

Unerklärbare Wandlung

Zehn Jahre später fand Afonso Cabral einen Artikel über den schrecklichen Mord. Und er spürte den Drang, einen Roman über die Täter zu schreiben, über die eigentlich unerklärbare Wandlung von zunächst hilfsbereiten, fürsorglichen Jugendlichen zu einer Bande von Gewaltverbrechern.
"In dieser Geschichte treffen die traurigen Schicksale verschiedener Menschen aufeinander. Es gab hier eine riesengroße Leerstelle, die durch die Literatur gefüllt werden konnte."
Aus der Sicht des 12-jährigen Rafael erzählt Cabral eine hoch spannende Geschichte, die ganz am Rande der portugiesischen Gesellschaft spielt.
Zitat:
Ich roch nach alten Lappen und Ammoniak und war nicht mit dem Privileg zur Welt gekommen, wie Samuel eine Hure zur Mutter zu haben, die ihm trotzdem noch nach dem Baden »A Treze de Maio« vorsang. Auch nicht mit Begabungen und sonstigen Besonderheiten, die mich auszeichnen würden, nicht einmal mit Eigenschaften, wie sie Typen wie Nélson hatten, so doof, dass man ihm einfach nichts übel nahm.
Afonso Reis Cabral. Lissabon, 2015.
Afonso Reis Cabral fand zufällig einen Zeitungsartikel über den realen Fall einer ermordeten Transsexuellen.© imago stock&people
Die Suche nach einer Mutterfigur, nach Wärme und Fürsorge, die in Rafas Leben und in dem seiner beiden Heim-Freunde immer zu fehlen schien, führt die Jugendlichen zu der Transsexuellen Gisberta: Sie lebt in einer Bauruine und holt aus ihrem von Drogensucht, Krankheit und Gewalt gezeichneten Körper noch die Energie, um eine Freundschaft mit den Jungen zu beginnen.

Eifersucht führt zur Tragödie

Doch die Eifersucht zwischen den Jugendlichen und die Unfähigkeit, ihre Bedürfnisse in etwas zu kanalisieren, was mit den Ritualen ihrer gewaltbereiten, rebellischen Existenz brechen würde, führen schließlich in die Tragödie.
Afonso Cabral war zum Zeitpunkt des realen Verbrechens nicht viel älter als die Hauptfiguren in seinem Roman. Und er lebte wie sie in der Hafenstadt Porto. Dennoch hatte Cabrals bildungsbürgerliches, wohl behütetes Leben kaum einen Berührungspunkt mit den Erfahrungen seiner Protagonisten:
"Das ist eine ganz andere Stadt. Das sind ganz andere soziale Bedingungen, ganz andere Lebensläufe. Und ich hatte keinerlei Zugang dazu. Und auch Gisberta, ihr Leben und ihre Transsexualität, das alles war mir total fremd. Aber die Literatur ermöglicht uns genau das: die Entdeckung des Anderen."
Kein Truman Capote
Mit dem Eifer eines investigativen Journalisten machte sich Cabral ans Werk: Er studierte Akten, hörte Zeugen und Bekannte, er lief durch Porto und fotografierte die Bauruine. Doch ihm war klar, dass er kein Truman Capote ist und sein Buch auch nicht, wie "In Cold Blood", ein nicht-fiktionaler Roman werden würde.
In der Kunst sind der Transsexuellen Gisberta bereits eine Reihe von Werken gewidmet worden: ein Kurzfilm, ein Pop-Song, ein Gedicht. Afonso Cabrals "Aber wir lieben dich" erweitert den Blick auf die Täter dieses abscheulichen Verbrechens. Und ihm gelingt dabei ein psychologisch feinfühliger Roman über die Unfähigkeit zu lieben.

Afonso Reis Cabral: "Aber wir lieben dich"
Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler
Hanser Verlag, München 2021
304 Seiten, 24 Euro

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