Terror, Taktik, Taliban
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Nach UN-Angaben wurden im vergangenen Jahr in Afghanistan 4000 Zivilisten getötet, mehr als 7000 wurden verletzt. Gleichzeitig laufen die Gespräche zwischen den USA und den Taliban mit dem Ziel das Land zu befrieden. Mit Aussicht auf Erfolg?
Ein vollständiger Abzug aller ausländischen Truppen aus Afghanistan. Diese Forderung der Taliban steht im Mittelpunkt aller sogenannten Friedensgespräche, die seit Monaten geführt werden. Sowohl in Doha, zwischen der Taliban-Führung und dem US-Sondergesandten, Zalmay Khalilzad, als auch in Moskau, unter Beteiligung der russischen Regierung, Vertretern der Taliban und einer afghanischen Delegation unter Führung des früheren Präsidenten Hamid Karzai.
Direkte Gespräche mit der afghanischen Regierung lehnen die Taliban ab. Sie betrachten den amtierenden Präsidenten Ashraf Ghani als Marionette der USA und machen den Abzug der US-Truppen und der anderen ausländischen Streitkräfte zur Vorbedingung für Frieden in Afghanistan.
Der Chef des politischen Büros der Taliban, Mohammad Abbas Stanikzai, Ende Mai bei einer Gesprächsrunde in Moskau:
"Bevor überhaupt Friedensgespräche beginnen können, müssen alle ausländischen Truppen Afghanistan verlassen. Sowohl die Amerikaner als auch die anderen NATO-Truppen, die noch in Afghanistan sind. Sie sind das Hauptproblem, ihre Anwesenheit ist die Mutter aller Probleme in Afghanistan."
Geheimer Plan der USA: Abzug in fünf Jahren?
Bisher haben die USA und die Nato stets bekräftigt, dass ein Abzug erst dann in Frage komme, wenn ein dauerhafter Waffenstillstand in Afghanistan in Kraft getreten sei. Doch vor wenigen Wochen berichtete die New York Times, dass ein noch geheimer Plan des US-Verteidigungsministeriums einen Abzug der US-Truppen innerhalb der nächsten fünf Jahre vorsehe.
Rund 14.000 US-Soldaten sind derzeit noch in Afghanistan im Einsatz. Hinzu kommen knapp 9.000 Soldaten anderer Länder, die an der Ausbildungs- und Unterstützungsmission Resolute Support beteiligt sind. Darunter auch bis zu 1.300 Soldaten der Bundeswehr. Sie beraten und trainieren die afghanischen Soldaten.
Wenn morgens die Sonne aufgegangen ist, über dem Bundeswehr-Camp in der nordafghanischen Stadt Mazar-e Sharif und die Felsen des Marmal-Gebirges, nach dem das Camp benannt ist, goldgelb beleuchtet, warten die Soldaten schon auf den Abflug der Transport-Hubschrauber, die sie ins Lager der afghanischen Streitkräfte bringen sollen. Die weiß gespritzten, schon etwas betagten Hubschrauber russischer Bauart, gehören einem ukrainischen Contractor, wie die privaten Sicherheitsfirmen genannt werden, der den Pendelverkehr zwischen den Unterkünften der Bundeswehr und dem Ausbildungscamp der Afghanen organisiert.
Prekäre Sicherheitslage: es muss mit allem gerechnet werden
Ein Dutzend Passagiere pro Hubschrauber. Mit gepanzerten Fahrzeugen am Boden wäre die Anreise zum Camp Shaheen, wo der Unterricht im Rahmen der Ausbildungs- und Unterstützungsmission Resolute Support stattfindet, viel zu zeitaufwendig. Denn die Radpanzer der Bundeswehr sind für den Transport von mehreren Personen gar nicht ausgestattet. Die Mission der Bundeswehr ist personalaufwendig. Jeder Advisor, wie sich die Ausbilder selbst bezeichnen, bekommt einen schwer bewaffneten Soldaten der sogenannten Force Protection zur Seite gestellt.
"Force Protection sind Kräfte, die uns Advisor bei unserer Tätigkeit absichern. Während wir uns voll und ganz auf die Ausbildung konzentrieren, können wir das umliegende Gelände nicht beobachten und auf sich verändernde Situationen nicht reagieren, weil wir das gar nicht wahrnehmen."
Die Sicherheitslage ist prekär. Außerhalb des Bundeswehr-Camps muss mit allem gerechnet werden, auch im Lager der afghanischen Streitkräfte. Die Taliban sind hier überall. Immerhin sind die afghanischen Soldaten in Mazar-e Sharif für alle nördlichen Provinzen zuständig, sagt Oberst Kabila, der afghanische Kommandeur in der Provinz Balkh.
"Wir decken hier im Norden und Nordosten unseres Landes neun Provinzen ab. Unsere Luftwaffe hier unterstützt die Streitkräfte am Boden, wenn sie gegen die Taliban und andere Aufständische kämpfen."
Ein Drittel der zivilen Opfer sind Kinder
Es geht einiges schief bei den Einsätzen der afghanischen Streitkräfte gegen die Taliban und andere sogenannte Aufständische. Immer wieder kommt es zum versehentlichen Beschuss von Wohngebieten. Nach einem Bericht der Vereinten Nationen haben die afghanischen und internationalen Streitkräfte in den ersten drei Monaten dieses Jahres mehr Zivilisten getötet als die Taliban. Richard Bennett, der UN-Menschenrechtsbeauftragte für Afghanistan:
"Besonders besorgt sind wir über Durchsuchungsaktionen der afghanischen Streitkräfte, die manchmal mit internationaler Unterstützung durchgeführt werden. Und über Lufteinsätze, bislang vor allem von den internationalen Streitkräften. Diese Einsätze haben zum Tod von vielen Zivilisten geführt. Mindestens die Hälfte von ihnen waren Frauen und Kinder. Allein die Kinder machten etwa ein Drittel dieser zivilen Opfer aus."
Afghan Tactical Air Control ATAC, das heißt, die Zielsteuerung der afghanischen Luftwaffe, ist einer der Schwerpunkte der Ausbildungsmission der Bundeswehr in Mazaar-e Sharif.
"Ein ATAC ist dafür da, Luftfahrzeuge entsprechend anzuweisen, bestimmte Ziele nach seinen Anweisungen zu bekämpfen. Das ist immens wichtig, weil diese Luftfahrzeuge - das können Flugzeuge oder Hubschrauber sein - jede Menge Feuerkraft haben, mit der sie dann die Bodenkräfte unterstützen können."
"Wir bilden nicht aus, wir advisen nur"
Gerade im Norden Afghanistans rücken die Taliban seit Monaten verstärkt vor. Unterschiedlichen Schätzungen zufolge kontrollieren sie mehr als die Hälfte aller Provinzen des Landes. Warum sind die afghanischen Streitkräfte in der Defensive? Liegt es an der Ausbildung?
"Wir bilden die Afghanen ja nicht aus. Das ist das völlig falsche Wording. Wir beraten nur, wie könnte der Zielerreichungsprozess anders dargestellt werden? Wie kann die Befehlsgebung innerhalb der Stabsarbeit effektiver und effizienter gestaltet werden? Wir bilden nicht aus, wir advisen nur."
Im März hat der Bundestag das Mandat für den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan um ein weiteres Jahr verlängert. Dabei sei noch einiges zu tun, sagte einer der leitenden Advisor, vor allem im Bereich der Luftwaffe.
"Ich muss leider gestehen, wir sind da ganz am Anfang, also am Anfang der Luftwaffe, beim Heer sind die Afghanen viel weiter. Denn am Anfang wurde viel Kraft und Energie in die Groundforces gesteckt, weil die Luftunterstützung von den Coalitionforces kam. Und jetzt geben wir denen immer mehr Hubschrauber, immer mehr Maschinen und da müssen die in der Lage sein, die auch effektiv zu nutzen und da sind wir leider ganz am Anfang."
Idealerweise keine sehr lange Option
Ganz am Anfang und doch schon mit den Gedanken beim Ende der Mission. Während in Doha die Taliban-Führung und die USA über einen möglichen Abzug der US-Truppen aus Afghanistan beraten – was letztendlich auch Konsequenzen für die Präsenz der Bundeswehr hätte – erwartet der Senior-Advisor Oberst B. klare Entscheidungen der Politik:
"Ich glaube, wir müssen uns als Deutschland mal Gedanken darüber machen, was wir in Zukunft in unserer Sicherheitsarchitektur eigentlich wollen. Am Ende müssen wir als westliche Staaten ja auch irgendwann daran interessiert sein, hier wieder raus zu kommen. Das soll ja idealerweise keine noch sehr, sehr lange Option werden."
Sollten die US-Truppen, wie von Präsident Donald Trump angekündigt, aus Afghanistan abziehen, würde auch die Bundeswehr ihren Einsatz am Hindukusch beenden. Wie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen stets bekräftigte, lautet die Devise: Gemeinsam rein, gemeinsam raus.
Doch ob die Zeit dafür schon reif ist? Fast täglich gibt es Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und öffentliche Einrichtungen, in den Provinzhauptstädten und auch in Kabul.
Kurz nach Beginn des für Muslime heiligen Fastenmonats Ramadan wurde in der afghanischen Hauptstadt das Büro einer internationalen Nichtregierungsorganisation angegriffen.
Immer wieder Selbstmordattentäter
Die Taliban gingen nach ihrem altbewährten Muster vor. Ein Selbstmordattentäter sprengte sich vor dem Eingang der NGO in die Luft. Danach stürmten bewaffnete Angreifer das Gebäude. Bei stundenlangen Feuergefechten zwischen den Sicherheitskräften und den Eindringlingen wurden neun Menschen getötet. Die NGO Counterpart International sei ausgewählt worden, hieß es in einer Mitteilung der Taliban, weil sie sich für die westliche Kultur einsetze, unter anderem für die Gleichheit von Männern und Frauen in Afghanistan.
Bei anderen internationalen Nichtregierungsorganisationen in der afghanischen Hauptstadt wächst nun die Angst vor ähnlichen Angriffen. Auch die Akzeptanz der NGOs in der Bevölkerung scheint zu schwinden. Ein Anwohner klagte gegenüber einem Reporter der Nachrichtenagentur AP, dass die Präsenz der ausländischen Organisationen die Gefahr von Anschlägen erhöhe.
"Warum erlaubt die Regierung überhaupt, dass die ausländischen Organisationen ihre Büros in Wohngebieten haben? Die sollten woanders untergebracht werden, nicht hier, wo die Leute wohnen und die Einwohner von Kabul dadurch in Gefahr gebracht werden. Ständig gibt es Selbstmordanschläge vor solchen Einrichtungen und die sind überall, an jeder Ecke ist so ein Büro."
Die zahlreichen internationalen Nichtregierungsorganisationen in Kabul, haben sich in den vergangenen Jahren vor allem für die Stärkung der afghanischen Zivilgesellschaft eingesetzt, für Menschenrechte und die Rechte der Frauen, beispielsweise. Doch angesichts der Aussicht auf eine Friedensvereinbarung mit den Taliban scheint in Teilen der afghanischen Bevölkerung das Interesse an einer offenen demokratischen Gesellschaft zu schwinden.
Auch die Interessen der Taliban berücksichtigen
Selbst einigen Delegierten der Großen Ratsversammlung, die Anfang Mai zusammengekommen war, gingen die Freiheiten, die sich die afghanischen Frauen in den vergangenen Jahren erkämpft hatten, zu weit. Im Schlussdokument der Loja Dschirga hieß es, man müsse auch die berechtigten Interessen der Taliban berücksichtigen.
Afghanistans Präsident Ashraf Ghani hatte den Taliban einen Waffenstillstand angeboten, nachdem die Delegierten der Loja Dschirga ein Ende der Kämpfe als zentrale Empfehlung für die geplanten Friedensgespräche formuliert hatten.
"Ich rufe die Taliban zu einem inner-afghanischen Dialog auf. Damit Frieden in diesem Land möglich wird und um die Empfehlungen dieser Loja Dschirga umzusetzen. Wir sind bereit, die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Als Geste des guten Willens habe ich angeordnet, dass 175 Taliban freizulassen, die seit mehr als vier Jahren in unserer Gefangenschaft sind. Wenn die Taliban bereit sind für einen Waffenstillstand, können wir sofort alle technischen Details dafür besprechen."
Eine ganze Woche lang hatten afghanische Stammesführer, Politiker und Geistliche sowie Vertreter der Zivilgesellschaft darüber beraten, wie die Diskrepanz zwischen den demokratischen Strukturen, die in der afghanischen Verfassung festgelegt sind und den mittelalterlich anmutenden Vorstellungen der radikal-islamischen Taliban überwunden werden könnten, damit eine Friedensvereinbarung geschlossen werden kann.
"Wir wollen freie Wahlen und ein starkes Parlament"
Dutzende Arbeitsgruppen hatten über die Themen gesprochen, die den Menschen in Afghanistan im Zusammenhang mit den Friedensgesprächen unter den Nägeln brennen. Das künftige politische System Afghanistans beispielsweise, denn die Taliban haben ganz andere Vorstellungen von der Zukunft des Landes. Die Errungenschaften der vergangenen Jahre müssten erhalten bleiben, sagte Faizullah Jalal, in einer flammenden Rede vor der Vollversammlung der Loja Dschirga. Da dürfe man bei den Friedensgesprächen nicht einknicken:
"Wir wollen keinen Frieden, in dem die Rechte der Frauen nicht garantiert sind. Oder das Recht der freien Meinungsäußerung, die Pressefreiheit. Wir wollen freie Wahlen und ein starkes Parlament."
Nicht nur bei den Delegierten der Loja Dschirga wächst die Sorge, dass die in den vergangenen Jahren erreichten Freiheiten und allgemeinen Bürgerrechte zugunsten einer baldigen Vereinbarung mit den Taliban geopfert werden könnten. Der Politologe Omar Sadr hat den sogenannten Friedens-Prozess in Afghanistan in den vergangenen Jahren verfolgt und analysiert und sieht darin eine große Gefahr für die politischen Strukturen des Staates. Die Taliban hätten schon längst die Kontrolle über den Verlauf des Friedensprozesses übernommen:
"Die Taliban bestimmen den Zeitpunkt, den Ort und die Tagesordnung der Gespräche. Sie bestimmen sogar, wer daran teilnehmen darf und wer nicht. Sie haben die afghanische Regierung einfach ausgeschlossen, weil sie sich weigern, direkt mit der Regierung zu sprechen. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die jetzige Regierung, sondern auf das gesamte politische System Afghanistans. Die staatlichen Organe werden bis zur Bedeutungslosigkeit reduziert."
Niemand kennt die Pläne der Taliban
Omar Sadr und andere Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft befürchten, dass die demokratischen Strukturen, die in der afghanischen Verfassung verankert sind, Menschenrechte, Pressefreiheit und ganz besonders, die Rechte und Freiheiten der Frauen, künftig eine untergeordnete Rolle spielen könnten. Niemand kenne die Pläne der Taliban und deren Verhandlungsposition bei den Friedens-Gesprächen, sagte die Jura-Professorin Shehla Farid, von der Universität Kabul:
"Nicht nur ich, sondern alle Frauen in Afghanistan fürchten sich vor einer möglichen Rückkehr der Taliban an die Regierung. Sie haben uns keinerlei Garantien gegeben, dass sie den Frauen die Freiheiten lassen, die sie in den vergangenen Jahren errungen haben. Sie sagen immer wieder, sie respektierten die Rechte der Frauen nach dem islamischen Recht, aber das unterliegt alles deren Interpretation der Sharia."
Während der Taliban-Herrschaft bis zum Jahr 2001 waren die Frauen fast völlig aus dem öffentlichen Leben verbannt. Obwohl sich heute schon viele junge afghanische Frauen in westlich orientierter Kleindung auf die Straße trauen, sieht man noch viele Frauen unter einer Burka, einer Ganzkörper-Verhüllung, die nur einen vergitterten Sehschlitz freilässt.
Die Professorin Shehla Farid wurde während der Taliban-Herrschaft zusammen mit ihrem Ehemann verhaftet, weil sie ihren Schülerinnen Englisch unterrichtete, was damals verboten war. Noch immer denkt sie an die gute alte Zeit davor, in der es viele Freiheiten für afghanische Frauen gab.
"Wenn ich heute meinen Töchtern Fotos aus den 70er-Jahren zeige, wo ich mit Minirock und offenem Haar als Studentin an der Universität zu sehen bin, dann werden sie ganz neidisch und sagen, Mama, was waren das denn für Zeiten? Wie war so etwas denn möglich?"
"Die Menschen in Afghanistan warten auf Gerechtigkeit"
Der Menschenrechtsaktivist Abdul Wadood Pedram, befürchtet, dass für eine möglichst schnelle Einigung bei den sogenannten Friedensgesprächen zwischen den USA und den Taliban die Menschenrechtsverletzungen der vergangenen Jahre unter den Tisch fallen könnten:
"Es gab viele Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen in Afghanistan. Als der Internationale Strafgerichtshof im Jahr 2017 dazu aufgefordert hat, entsprechende Klagen vorzubringen, wurden mehr als 600 Fälle eingereicht, von denen insgesamt eine halbe Million Menschen betroffen waren. Und dann haben die USA riesigen Druck ausgeübt, auf Ankläger und auch auf Richter des ICC. Aber die Menschen in Afghanistan warten auf Gerechtigkeit."
Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag, ICC, hatte vor Kurzem bekannt gegeben, dass er keine Ermittlungen zu mutmaßlichen Verbrechen der USA in Afghanistan einleiten werde. Auch den Antrag der Chef-Anklägerin beim ICC, Fatou Bensouda, eine Untersuchung zu Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen einzuleiten, wurde abgewiesen. Zur Begründung hieß es, die Parteien, gegen die ermittelt würde, darunter die USA, afghanische Behörden und die Taliban, kooperierten nicht. Eine Ermittlung und auch eine mögliche Strafverfolgung hätten somit keine Aussicht auf Erfolg.
USA üben Druck auf den Internationalen Strafgerichtshof aus
Die USA hatten in den vergangenen Monaten Druck auf den Internationalen Strafgerichtshof ausgeübt, keine Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan zuzulassen. Der ICC-Anklägerin Bensouda wurde sogar die Einreise in die USA verweigert. In Afghanistan hätten aber nicht nur die USA Kriegsverbrechen begangen, klagt Menschenrechtsanwalt Wadood Pedram. Auch die Taliban und selbst afghanische Politiker, die heute über die Zukunft des Landes entscheiden, hätten sich in dem jahrzehntelangen Krieg und Bürgerkrieg schuldig gemacht.
"Die Taliban haben Kriegsverbrechen begangen ebenso wie andere Gruppen und selbst die Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten. Aber niemand fragt heute nach den Millionen von Menschen, die Familienmitglieder verloren haben. Stattdessen sitzen diejenigen, die in die Konflikte der Vergangenheit verwickelt waren, heute am Tisch und reden miteinander über Frieden."
In einem unscheinbaren Haus in einem Wohngebiet im Westen von Kabul ist ein kleines Museum eingerichtet worden, für die Opfer von Krieg und Bürgerkrieg der vergangenen Jahrzehnte. In gläsernen Vitrinen werden persönliche Gegenstände von Verstorbenen ausgestellt, auf Wandtafeln werden ihre Geschichten erzählt.
Unter anderem die der 18-jährigen Rahila, die im August vergangenen Jahres bei einem Selbstmordanschlag vor ihrer Schule getötet wurde. Hadi Marifat, der Direktor der afghanischen Menschenrechtsorganisation AHRDO:
"Es gibt so viele nicht erzählte Geschichten, die jetzt hier dargestellt werden. Wir hoffen, dass dadurch ein Heilungsprozess in Gang gebracht werden kann, wenn die Leute kommen und die Geschichte ihrer Angehörigen erzählen oder hier wiederfinden. Wenn sie sehen, dass sie nicht die einzigen in diesem Land sind, die gelitten haben."
Der "Schlächter von Kabul" Hekmatyar will Präsident werden
Ob die Verursacher für das Leid der Menschen in Afghanistan irgendwann mal zur Rechenschaft gezogen werden? Bislang sieht es nicht danach aus. Ein Politiker, der nachweislich für Kriegsverbrechen verantwortlich war, ist jetzt sogar als Kandidat für die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen registriert. Der sogenannte Schlächter von Kabul, Gulbuddin Hekmatyar, einer der am meisten gefürchteten Warlords Afghanistans, reichte im Januar bei der Nationalen Wahlkommission die Unterlagen ein.
Hekmatyar ist der Anführer der islamistischen Organisation Hezb-i-Islami und hatte nach der Beginn der militärischen Intervention der USA im Jahr 2001 auch mit den Taliban und der Terrororganisation Al-Kaida kooperiert. Im langjährigen Bürgerkrieg in Afghanistan in den 90er-Jahren soll er für zahlreiche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen verantwortlich gewesen sein.
An einem alten Tisch mit eisernen Handschellen und Folterinstrumenten, der in dem kleinen Museum in Kabul ausgestellt ist, sitzt Naik Mohammad Sharif, der während der kommunistischen Herrschaft in Afghanistan als vermeintlicher Spion für die Mudschaheddin inhaftiert und gefoltert worden war. Man könne wohl nicht alle Menschenrechtsverletzer vor Gericht stellen, sagte er mit einer gewissen Resignation:
"Bei diesem Ausmaß von Kriegsverbrechen, die in diesem Land begangen wurden, kann man natürlich nicht alle vor Gericht stellen, aber einige sollte man schon zur Verantwortung ziehen. Man sollte die Verantwortlichen fragen, warum so viele Menschen getötet, inhaftiert, gefoltert und missbraucht wurden."
Für schwere Kriegsverbrechen in Afghanistan ist auch die Terrororganisation Islamischer Staat verantwortlich, die in mehreren Provinzen auf dem Vormarsch ist. Aus Angst vor der Brutalität der islamistischen Terroristen sind tausende Afghanen geflohen. So wie Farmanullah Shirzad, der sich und seine Familie zu Verwandten in der Nachbarprovinz in Sicherheit gebracht hat :
"Das sind gefährliche Leute. Schon bevor sie in eine Gegend kommen, hört man, dass sie die Frauen und Mädchen entführen und entehren. Deswegen sind wir geflohen, aus Angst um unser Leben."
Afghanistan als Hochburg des IS
Seit der Islamische Staat sein Gebiet in Syrien und im Irak verloren hat, ist die Gebirgsregion im Norden Afghanistans zur Hochburg der radikalen Islamisten geworden. Auch die Provinz Nangarhar, östlich von Kabul, ist offenbar weitgehend unter der Kontrolle des IS. Ajmal Omar, Mitglied des Provinzrates in Jalalabad:
"Der Islamische Staat hat sich eine Weile ruhig verhalten, ist aber nicht besiegt. Die haben sich neu ausgerüstet, damit sie sich weiter ausbreiten können, auch in andere Provinzen. Selbst in Kunar sind sie jetzt vertreten. Die haben Scharfschützen, Nachtsichtgeräte und schwere Waffen. Deshalb ist es für die afghanischen Streitkräfte schwer, gegen sie vorzugehen. Wir haben ja nicht mal eine starke Luftwaffe und auch keine Drohnen. Der IS kann Afghanistan leicht zu einem Rückzugsort für Terroristen machen."
Damit bleibt auch bei einer möglichen Einigung zwischen den USA und den Taliban ein Problem ungelöst, das bei den Gesprächen in Doha im Mittelpunkt steht. Von afghanischem Boden aus dürfe nie wieder ein Terrorangriff auf die USA oder andere Staaten verübt werden, bekräftigte der US-Sondergesandte, Zalmay Khalilzad, bei all seinen Gesprächen mit den Taliban. Vor dem Hintergrund des immer stärker werdenden Islamischen Staates in Afghanistan wäre ein Abzug der internationalen Truppen mit einem hohen Risiko für Frieden und Sicherheit verbunden, in Afghanistan und in der ganzen Welt.