Ästhet mit einer Mission
Harry Graf Kessler träumte von einer Erneuerung Deutschlands durch die Kunst und von einem "ästhetischen Staat". Sein ganzes Leben widmete der umtriebige Diplomat und Kunstförderer dieser Aufgabe. Laird M. Easton stellt den kosmopolitischen "roten Grafen" in seiner neuen Biografie vor.
Im Hochgefühl seiner ersten offiziellen Position, die im Grunde auch seine einzige lang andauernde bleiben sollte, schrieb Harry Graf Kessler, frisch bestallter Direktor des großherzoglich Weimarischen Museums für Kunst und Kunstgewerbe im November 1905:
"Mir überlegt, welche Wirkungsmittel ich in Deutschland habe: den deutschen Künstlerbund, meine Stellung in Weimar inklusive des Prestiges (trotz des großherzoglichen Schwachsinns), die Verbindungen mit der Reinhardtischen Bühne, meine intimen Beziehungen zum Nietzsche-Archiv, zu Hofmannsthal, zu van de Velde, meine nahen Verbindungen mit Dehmel, Liliencron, Liebermann, Ansorge, Gerhart Hauptmann, außerdem mit den beiden einflussreichsten Zeitschriften ,Zukunft’ und ,Neue Rundschau’ und ganz nach der anderen Seite hin zur Berliner Gesellschaft, Harrachs, Richters, dem Regiment, und schließlich mein persönliches Prestige. Die Bilanz ist ziemlich überraschend und wohl einzig. Niemand anders hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung."
Der ganze Kessler liegt schon in dieser frühen Lebensbilanz. Seine "zehntausend Bekannten", wie Hofmannsthal einmal spottete, seine Verwurzelung in der Welt der Politik UND in der Welt der Künste, sein Ehrgeiz und Wirkenwollen, vor allem aber jenes große Lebensziel, das er vor dem Ersten Weltkrieg durch die Kunst, danach jedoch durch Politik und Diplomatie zu erreichen suchte: die Erneuerung der deutschen Kultur.
Es ist das Verdienst dieser neuen, im Grunde ersten vollgültigen Biographie des großen Kunstmäzens und Schriftstellers Harry Graf Kessler, den sie den "roten Grafen" nannten, die tausendfachen Aktivitäten und Projekte dieses wahnwitzig neugierigen, umtriebigen, ja getriebenen, "kosmopolitischsten Menschen, der je gelebt hat", wie ihn ein englischer Freund genannt hat, auf diesen einen, allem zugrunde liegenden Impuls zurückzuführen: Erneuerung der deutschen Kultur, Schaffung eines "ästhetischen Staates".
Und der Autor dieser ungemein lesenswerten, weil elegant und flüssig geschriebenen Biographie, der amerikanische Kulturhistoriker Laird Easton, der an der Universität von Kalifornien lehrt, ist vertraut genug mit den kulturellen Strömungen, die Kesslers Lebensjahre ihr Gepräge gaben, um dessen Erneuerungsimpuls folgendermaßen einordnen zu können:
"Anfangs- und Endstation von Kesslers tätigem Leben als Erwachsener sind die Jahre 1890 und 1930, also ungefähr der Zeitraum von Geburt und Triumph der modernen Kunst bis zum Aufstieg der Massenpolitik. Wie sich herausstellen sollte, waren Kunst und Politik nirgends schicksalhafter verflochten als in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas.
Betrachtet man die vier Dekaden von 1890 bis 1930 in ihrer Gesamtheit und verwendet einen weiteren Kunstbegriff, der Phänomen wie industrielle Formgestaltung, Theaterpraxis und Film ebenso umfasst wie die so genannte reine Kunst, dann spricht sehr viel dafür, Deutschland und Österreich, nicht aber Frankreich und England, als ,Schmelztiegel der Moderne’ zu bezeichnen, in dem der selbstbewussteste, radikalste, aber auch intensivste und einflussreichste Modernismus Gestalt annahm.
Am stärksten war überdies im deutschsprachigen Raum die Verlockung zu einer neuen Art von Politik, die mit kulturellen Mitteln praktiziert wurde, um ästhetische Ziele zu verfolgen. Von Winckelmann und Schiller über Richard Wagner und Nietzsche bis zu Georg Lukacz, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht und Herbert Marcuse waren es - sieht man von seltenen Ausnahmen wie John Ruskin und William Morris ab - deutschsprachige Künstler und Denker, die sich am intensivsten mit dem Wechselverhältnis zwischen Kunst und Politik auseinandersetzten."
Zu diesen Denkern werden wir fortan auch Harry Graf Kessler zählen müssen. Allerdings hat er kein Werk im eigentlichen Sinne hinterlassen. Das Umfangreichste, was er geschrieben hat, ist sein unwahrscheinlich inhaltsreiches Tagebuch, das er von 1880 bis zu seinem Tode 1937 führte und das nun dank der kompletten Edition, die der Klett-Cotta-Verlag zur Zeit herausbringt, endlich als das gewürdigt werden kann, was es ist: nämlich die wichtigste zeithistorische Quelle für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts.
Neben seiner hervorragenden Beobachtungsgabe, die Kesslers Tagebuch auch zu einem literarischen Zeugnis ersten Ranges macht, verfügte Kessler noch über ein weiteres Talent, das Easton als erster richtig einzuschätzen weiß. Kessler war, wie er schreibt, ein "Virtuose des Vermittelns". Dies war seine ganz spezielle geistige Produktivität, die alles andere, seine diplomatischen Missionen, seine Bücher, unter denen vor allem die noch heute lesenswerte Rathenau-Biographie erwähnt sei, die aber auch seinen Anteil an den Werken anderer, wie seine Beiträge zu Hofmannsthals "Rosenkavalier" oder Richard Straussens Ballett "Josephslegende" weit in den Schatten stellt.
Indem er so unterschiedliche Künstler wie Maillol und van de Velde, wie Gerhart Hauptmann und Johannes R. Becher, wie George Grosz und Josephine Baker inspirierte und, dank seines zunächst immensen Vermögens, auch finanziell unterstützte, war Kessler in seinem ureigenen Element. Als Mann im Hintergrund, der allerdings diskret zurücktrat, um den anderen ihren Auftritt zu lassen.
Einen der faszinierendsten, politisch hellsichtigsten und künstlerisch aufnahmefähigsten Deutschen des 20. Jahrhunderts können wir jetzt endlich, dank Eastons anschaulichem, kenntnisreichem Porträt kennen lernen. Dieses Buch ist eine wirkliche Bereicherung.
Laird M. Easton: Der rote Graf - Harry Graf Kessler und seine Zeit
Übersetzt von Klaus Kochmann
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005
"Mir überlegt, welche Wirkungsmittel ich in Deutschland habe: den deutschen Künstlerbund, meine Stellung in Weimar inklusive des Prestiges (trotz des großherzoglichen Schwachsinns), die Verbindungen mit der Reinhardtischen Bühne, meine intimen Beziehungen zum Nietzsche-Archiv, zu Hofmannsthal, zu van de Velde, meine nahen Verbindungen mit Dehmel, Liliencron, Liebermann, Ansorge, Gerhart Hauptmann, außerdem mit den beiden einflussreichsten Zeitschriften ,Zukunft’ und ,Neue Rundschau’ und ganz nach der anderen Seite hin zur Berliner Gesellschaft, Harrachs, Richters, dem Regiment, und schließlich mein persönliches Prestige. Die Bilanz ist ziemlich überraschend und wohl einzig. Niemand anders hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung."
Der ganze Kessler liegt schon in dieser frühen Lebensbilanz. Seine "zehntausend Bekannten", wie Hofmannsthal einmal spottete, seine Verwurzelung in der Welt der Politik UND in der Welt der Künste, sein Ehrgeiz und Wirkenwollen, vor allem aber jenes große Lebensziel, das er vor dem Ersten Weltkrieg durch die Kunst, danach jedoch durch Politik und Diplomatie zu erreichen suchte: die Erneuerung der deutschen Kultur.
Es ist das Verdienst dieser neuen, im Grunde ersten vollgültigen Biographie des großen Kunstmäzens und Schriftstellers Harry Graf Kessler, den sie den "roten Grafen" nannten, die tausendfachen Aktivitäten und Projekte dieses wahnwitzig neugierigen, umtriebigen, ja getriebenen, "kosmopolitischsten Menschen, der je gelebt hat", wie ihn ein englischer Freund genannt hat, auf diesen einen, allem zugrunde liegenden Impuls zurückzuführen: Erneuerung der deutschen Kultur, Schaffung eines "ästhetischen Staates".
Und der Autor dieser ungemein lesenswerten, weil elegant und flüssig geschriebenen Biographie, der amerikanische Kulturhistoriker Laird Easton, der an der Universität von Kalifornien lehrt, ist vertraut genug mit den kulturellen Strömungen, die Kesslers Lebensjahre ihr Gepräge gaben, um dessen Erneuerungsimpuls folgendermaßen einordnen zu können:
"Anfangs- und Endstation von Kesslers tätigem Leben als Erwachsener sind die Jahre 1890 und 1930, also ungefähr der Zeitraum von Geburt und Triumph der modernen Kunst bis zum Aufstieg der Massenpolitik. Wie sich herausstellen sollte, waren Kunst und Politik nirgends schicksalhafter verflochten als in den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas.
Betrachtet man die vier Dekaden von 1890 bis 1930 in ihrer Gesamtheit und verwendet einen weiteren Kunstbegriff, der Phänomen wie industrielle Formgestaltung, Theaterpraxis und Film ebenso umfasst wie die so genannte reine Kunst, dann spricht sehr viel dafür, Deutschland und Österreich, nicht aber Frankreich und England, als ,Schmelztiegel der Moderne’ zu bezeichnen, in dem der selbstbewussteste, radikalste, aber auch intensivste und einflussreichste Modernismus Gestalt annahm.
Am stärksten war überdies im deutschsprachigen Raum die Verlockung zu einer neuen Art von Politik, die mit kulturellen Mitteln praktiziert wurde, um ästhetische Ziele zu verfolgen. Von Winckelmann und Schiller über Richard Wagner und Nietzsche bis zu Georg Lukacz, Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht und Herbert Marcuse waren es - sieht man von seltenen Ausnahmen wie John Ruskin und William Morris ab - deutschsprachige Künstler und Denker, die sich am intensivsten mit dem Wechselverhältnis zwischen Kunst und Politik auseinandersetzten."
Zu diesen Denkern werden wir fortan auch Harry Graf Kessler zählen müssen. Allerdings hat er kein Werk im eigentlichen Sinne hinterlassen. Das Umfangreichste, was er geschrieben hat, ist sein unwahrscheinlich inhaltsreiches Tagebuch, das er von 1880 bis zu seinem Tode 1937 führte und das nun dank der kompletten Edition, die der Klett-Cotta-Verlag zur Zeit herausbringt, endlich als das gewürdigt werden kann, was es ist: nämlich die wichtigste zeithistorische Quelle für das erste Drittel des 20. Jahrhunderts.
Neben seiner hervorragenden Beobachtungsgabe, die Kesslers Tagebuch auch zu einem literarischen Zeugnis ersten Ranges macht, verfügte Kessler noch über ein weiteres Talent, das Easton als erster richtig einzuschätzen weiß. Kessler war, wie er schreibt, ein "Virtuose des Vermittelns". Dies war seine ganz spezielle geistige Produktivität, die alles andere, seine diplomatischen Missionen, seine Bücher, unter denen vor allem die noch heute lesenswerte Rathenau-Biographie erwähnt sei, die aber auch seinen Anteil an den Werken anderer, wie seine Beiträge zu Hofmannsthals "Rosenkavalier" oder Richard Straussens Ballett "Josephslegende" weit in den Schatten stellt.
Indem er so unterschiedliche Künstler wie Maillol und van de Velde, wie Gerhart Hauptmann und Johannes R. Becher, wie George Grosz und Josephine Baker inspirierte und, dank seines zunächst immensen Vermögens, auch finanziell unterstützte, war Kessler in seinem ureigenen Element. Als Mann im Hintergrund, der allerdings diskret zurücktrat, um den anderen ihren Auftritt zu lassen.
Einen der faszinierendsten, politisch hellsichtigsten und künstlerisch aufnahmefähigsten Deutschen des 20. Jahrhunderts können wir jetzt endlich, dank Eastons anschaulichem, kenntnisreichem Porträt kennen lernen. Dieses Buch ist eine wirkliche Bereicherung.
Laird M. Easton: Der rote Graf - Harry Graf Kessler und seine Zeit
Übersetzt von Klaus Kochmann
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005