Psychische Krankheiten

Plötzlich wollen alle eine Diagnose haben

Eine Person in grau-weiss gestreiftem T-Shirt sitzt vor blauem Hintergrund. Statt eines Kopfes sind nur verschlungene schwarze Linien zu sehen, die Verwirrung und Konzentrationsschwäche symbolisieren.
Bei ADHS und anderen psychischen Erkrankungen boomen auf TikTok die Selbstdiagnosen. © Getty Images / Khosrork
Ein Kommentar von Thorsten Padberg · 18.09.2023
ADHS, Autismus, Depressionen: Psychiatrische Diagnosen sind gerade für Jüngere attraktiv geworden, beobachtet Therapeut Thorsten Padberg. Er hat eine Theorie, was hinter dem Hang steckt, jede ungute Eigenschaft zur psychischen Erkrankung zu erklären.
Psychiatrische Diagnosen sind attraktiv. Glauben Sie nicht? Dann schauen Sie mal auf TikTok oder Instagram vorbei. Da hat inzwischen gefühlt so ziemlich jeder ADHS, Autismus oder eine Depression. Alle drei gelten als Störungen mit großem biologischen Anteil, was in entsprechenden Erklärvideos auch mit Nachdruck betont wird. Die Botenstoffe sind schuld!
Ich will an dieser Stelle gar nicht die Diskussion eröffnen, ob es diese biologischen Ursachen wirklich gibt. Wissenschaftlich belegt sind sie jedenfalls nicht. Ich will an dieser Stelle nur darüber nachdenken, warum diese Diagnosen plötzlich jeder haben will. „Spätestens seit die Generation Z […] übernommen hat, wimmelt es von Diagnosen“, beobachtet eine Kolumnistin. Es sind also vor allem die Jüngeren, die jedes unerwünschte Symptom — von Unordentlichkeit über Schüchternheit bis zu Konzentrationsproblemen und sehr, sehr schlechter Laune — mit psychiatrischen Begriffen belegen.

Schattenseite des Individualismus

Aber warum ist das so? Ich persönlich habe noch gelernt, dass psychische Krankheiten etwas sind, dass man lieber nicht hat, weil, Sie wissen schon, gesund sein besser ist als krank sein. Aber vielleicht ist das auch altmodisch.
Vielleicht liegt es daran, dass wir ein „seltsames“ Völkchen sind. Das stammt nicht von mir, sondern vom Anthropologen Joseph Henrich. Der hält uns für „weird“, nämlich westlich, gut erzogen, industriell, reich und demokratisch, Wörter, deren Anfangsbuchstaben zusammengenommen das englische „weird“ ergeben, übersetzt also: seltsam. Zudem sind wir hier im seltsamen Westen laut Henrich die Könige und Königinnen des Individualismus. Wir setzen uns eigene Projekte, die wir dann durchziehen und niemand darf uns dabei reinreden. 
Doch wehe, es klappt nicht, was wir uns vorgenommen haben! Das „Weirde“ hat uns überaus erfolgreich gemacht, aber auch ungewöhnlich empfindlich. Ständig sind wir mit uns selbst beschäftigt. Wir kehren unsere besten Seiten heraus. Wenn etwas gut klappt, ist das ganz unser Verdienst, wenn nicht: alles unsere Schuld. Ganz einfach. Oder liegt es vielleicht doch an ADHS?
Sie kommen nicht mit all den vielen Menschen um Sie herum klar? Beschämend, sind doch soziale Kompetenzen so unendlich wichtig. Früher hätte man sie dafür zu einem Kommunikationstraining gejagt! Heute sind Sie nur ein ganz klein wenig autistisch, im Gehirn halt anders verdrahtet. Dafür kann man ja nix. Und bevor mich jemand faul nennt, verweise ich auf meine Neurotransmitter, die mir und meinen Projekten leider depressiv im Wege stehen. 

ADHS wird zur Schutzbehauptung

Ehrlich, verstehen Sie mich nicht falsch. All diese jungen Leute benutzen diese Konzepte in bester Absicht und mit gutem Grund. Sie sind so unscharf definiert, dass man sich leicht darin wiederfindet. Sie versprechen eine Erleichterung im ständigen Kampf um ein gutes Selbstbild, sehen sie die Fehler doch nicht in uns, sondern in unseren Körpern. Und natürlich hat die junge Generation sehr gut verstanden, was heute erwartet wird: nämlich Selbstbewusstsein, Motivation und Kontaktfreudigkeit.
Ein Anspruch, dessen Nicht-Erfüllung mit Scham und Schuld bestraft wird. Wer anders sein will, der kann zu seiner Entlastung nicht einfach nur divers sein. Es muss schon neurodivers sein, sonst gäb’s ja keinen guten Grund dafür. So wird man von jemandem, der sein Leben nicht im Griff hat, zu jemandem, der es ganz schwer hat und heroisch mit einer Behinderung kämpft.
Und deswegen sind psychische Label wie ADHS, Depression oder Autismus inzwischen so attraktiv: eben weil sie Probleme auf biologische Ursachen zurückführen, die nichts mit uns persönlich zu tun haben. Ihre biologische Basis ist ausgesprochen wacklig. Aber eines ist sicher: Sie scheinen aktuell das Einzige zu sein, was uns davor schützt, den Fehler am Ende immer bei uns selbst zu suchen. Das finden Sie seltsam? Aber so sind wir nun mal.

Thorsten Padberg arbeitet als Verhaltenstherapeut, Dozent und Supervisor in Berlin. Er beschäftigt sich mit der Wirksamkeit und den gesellschaftlichen Auswirkungen von Psychotherapie, psychiatrischer Diagnostik und Psychopharmaka. Zudem schreibt er als freier Journalist für verschiedene Medien sowie wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Zeitschriften. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die Depressions-Falle. Wie wir Menschen helfen, statt sie für krank zu erklären“ (Verlag S. Fischer).

Thorsten Padberg lächelt für ein Porträtfoto.
© Caroline Pitzke
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