Absage der Leipziger Buchmesse

Die Literaturszene verliert ihre Foren

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Ein Schild "Kein Eingang" steht vor der Leipziger Messehalle auf dem Boden.
Und wieder abgesagt: Auch in diesem Jahr kann die Leipziger Buchmesse wegen der Coronapandemie nicht in der geplanten Form stattfinden. © Picture Alliance / dpa / Jan Woitas
Ein Kommentar von Helmut Böttiger · 29.01.2021
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Der Literaturbetrieb ist in einer Krise: Er steht nicht nur wegen der Pandemie vor großen Herausforderungen. Mit der Absage der Leipziger Buchmesse entfällt nun aber ein Ort der Selbstverständigung für die Branche, kommentiert Helmut Böttiger.
Die Absage auch der diesjährigen Leipziger Buchmesse ist vernünftig und nachvollziehbar - und sie wird natürlich Folgen haben. Das betrifft in erster Linie Verlage und Autoren, denen konkrete finanzielle Möglichkeiten wegfallen.
Aber das ist nicht das Einzige. Die Corona-Pandemie trifft den Literaturbetrieb in einer Phase, in der er in eine Krise geraten ist, das Internet wirkte da wie eine rasante Beschleunigungsmaschinerie.
Es existieren mittlerweile diverse Publikationsmöglichkeiten, die den etablierten Wegen zwischen Verlagen, Buchhändlern und Lesern Konkurrenz machen - und sicher geglaubte Selbstverständlichkeiten außer Kraft setzen.

Spürbare Veränderungen des Literaturbegriffs

Es gibt spürbare Veränderungen des Literaturbegriffs und der Art und Weise, wie über Literatur gesprochen wird. Auf den vielen offiziellen und auch informellen Foren auf der Leipziger Buchmesse wäre das bestimmt ein Thema gewesen. Das Wissen um eine strukturelle Krise steht schon längst im Raum, da helfen auch die vielen Beschwichtigungsversuche gegen einen "Kulturpessimismus" nichts.
Die in den letzten Tagen bekannt gewordene Absicht des WDR, die etablierte Form der Buchrezension abzuschaffen, ist nur ein Indiz. Sie reagiert auf eine Entwicklung, die seit etlichen Jahren stattfindet.
Der Literaturbetrieb, der im Lauf der letzten Jahrzehnte entstanden ist, definierte sich anfangs durch Auseinandersetzungen zwischen Autoren, Kritikern und Publikum über inhaltliche und ästhetische Maßstäbe. Das hat sich langsam und unmerklich verschoben.

Dichte Infrastruktur, die funktionieren muss

Man hatte die Kultur noch lange als ein gesondertes Feld angesehen, das Angelegenheit einer speziellen Minderheit ist und es nicht von vornherein nach ökonomischen Prämissen bewertet. Sie ist mittlerweile aber zwangsläufig ein Teil dessen, was man von politischer Seite gern "Kreativwirtschaft" nennt.
Die Literatur bildet ein, wenn auch vergleichsweise kleines, Marktsegment. Es gibt eine immer dichter gewordene Infrastruktur mit Veranstaltungen, Festivals, Podiumsdiskussionen und sonstigen Events. Es geht um das Funktionieren. Dafür hat sich ein dichtes Netz von Organisatoren, Funktionären und Kulturmanagern herausgebildet, die für die richtige Performance sorgen.
Das heißt: Die Tätigkeit der Vermittlung scheint gesellschaftlich relevanter zu sein als das Sprechen über Ästhetik, über die Verbindung von Form und Inhalt, über Literatur als eine Form von Kunst – die notwendige Basis also.

Eine Entwicklung, die sich radikalisiert

Das führt zu einer ganz selbstverständlichen Normierung des Publikums. Auch für Buchbesprechungen ist ein Bestseller per se etwas Wichtiges und tendenziell positiv zu bewerten, das vermeintliche Schwierige ist verpönt. Diese Entwicklung radikalisiert sich zusehends. Verrisse sind selten, alle sitzen schließlich in einem Boot. Oft jedoch ist das Publikum klüger, als die Medien- und Marketingexperten es voraussetzen.
Ein Schriftsteller kann mehr sein als ein bloßer Dienstleister. In großen Momenten blitzt diese Möglichkeit immer wieder auf. Schade, dass die Leipziger Buchmesse in diesem Jahr kein Ort der Selbstverständigung für eine Branche sein kann, deren Identitätskrise sich immer stärker abzeichnet.
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