75 Jahre Grundgesetz

Die Zukunft der Verfassung geht uns alle an

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Zwei Personen halten am Rande eines Konzerts in Chemnitz ein Banner in der Hand mit der Aufschrift „Grundgesetz ist geil!“.
Deutschland wäre ohne das Grundgesetz weniger demokratisch, weniger frei und wohl auch weniger wohlhabend als mit ihm, meint der Jurist und Politologe Bijan Moini. © picture alliance / dpa / Sebastian Willnow
Ein Kommentar von Bijan Moini |
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Seit 75 Jahren gibt es das Grundgesetz. Ein Grund zu feiern, beschützt es doch die Demokratie in Deutschland. Dennoch ist Achtsamkeit geboten: Um die in der Verfassung verankerten Menschenrechte müsse immer wieder gekämpft werden, meint Bijan Moini.
Eine gelungene Verfassung ist wie ein gut gebautes Haus: Sie ist beständig, bietet Schutz, lässt sich hier und da verschönern, durchaus auch umgestalten – doch ihr Fundament und die sie tragenden Wände stehen, bis sie ersetzt oder zerstört werden.
Stellen wir uns einmal vor, der Parlamentarische Rat hätte 1948/49 kein Grundgesetz erarbeitet, also kein Haus, sondern ein Zelt errichtet. Er hätte also all das, was uns so vertraut geworden ist, per einfachem Gesetz geschaffen: die föderale Struktur, das parlamentarische System, die doppelte Exekutive aus Bundeskanzler und Bundespräsident, die Justiz. Wie wäre es weitergegangen mit unserem Land?
Ohne das Grundgesetz hätte die jeweils amtierende Regierung mit einfacher Mehrheit alles umkrempeln können. Sie hätte das Wahlrecht zu ihren Gunsten ändern können, im schlimmsten Fall so, dass ihr alle künftigen Wahlerfolge garantiert gewesen wären. Der Bundestag hätte die Bundesländer schrittweise entmachten können, indem er ihnen Kompetenzen entzieht.
Wie in Russland oder der Türkei hätte es ein Hin und Her der Befugnisse zwischen Kanzlerin und Präsident geben können, je nachdem, wer gerade welches Amt besetzt. Und das Bundesverfassungsgericht hätte nichts davon gestoppt, denn ohne Verfassung auch kein Gericht, das ihre Einhaltung überprüft.

Garant für ein freies Leben

Gäbe es kein Grundgesetz, würden auch die Grundrechte fehlen, die den Menschen in diesem Land ein würdevolles Leben in Freiheit und unter Gleichen versprechen.
Während der NS-Zeit wurden über 16.000 Menschen aufgrund von Strafgerichtsurteilen hingerichtet. Deshalb schrieb der Parlamentarische Rat ein Verbot der Todesstrafe ins Grundgesetz – obwohl 74 Prozent der Deutschen sie im Herbst 1948 noch für richtig hielten. Schon in den 50er-Jahren gab es fünf Gesetzesinitiativen zu ihrer Wiedereinführung. Gut möglich, dass eine dieser Initiativen ohne die Notwendigkeit einer Zweidrittelmehrheit für Änderungen des Grundgesetzes Erfolg gehabt hätte.
Das Bundesverfassungsgericht hat in den vergangenen Jahrzehnten etliche wichtige Entscheidungen getroffen, die die Grundrechte des Grundgesetzes immer wieder konkretisiert und erweitert haben. Es hat die Gleichstellung von Frauen und Männern gefördert, es hat die Meinungsfreiheit, das Versammlungsrecht und die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geschützt, es hat den Datenschutz erfunden und in jüngster Zeit die Rechte von Homosexuellen und nicht-binären Personen gestärkt.
Deutschland wäre ohne das Grundgesetz weniger demokratisch, weniger frei und wohl auch weniger wohlhabend als mit ihm. Es ist kein Zufall, dass die Länder mit dem weltweit höchsten Lebensstandard – gemessen am Human Development Index der UNO – nahezu alle gefestigte Demokratien sind. Trotzdem ist diese Regierungsform weltweit auf dem Rückzug - und wünschen sich auch hierzulande immer mehr Menschen autoritäre Führung oder sprechen Teilen der Bevölkerung die Rechte ab.

Bangen, ringen, kämpfen

Wer zur härteren Sanktionierung von Bürgergeldempfänger*innen das Grundgesetz ändern, Geflüchtete in semi-autoritäre Staaten deportieren oder Ausländer*innen das Versammlungsrecht nehmen will, erweckt den Eindruck, das mit dem universalen Anspruch der Menschenrechte sei nie so gemeint gewesen, ein Irrtum. Dass auch Frauen, Arme, Andersgläubige, Homosexuelle, Geflüchtete oder arbeitende Kinder in fernen Ländern sich auf sie berufen können, ist aber kein Irrtum, darf keiner gewesen sein. Menschenrechte gelten für alle, oder es gibt sie nicht.
Wir feiern 75 Jahre Grundgesetz. Zu Recht. Doch wir feiern die Vergangenheit. Nicht die Zukunft. Um die Zukunft des Grundgesetzes, das muss allen klar sein, müssen wir bangen, müssen wir ringen, müssen wir kämpfen.

Bijan Moini ist Rechtsanwalt und Politologe und leitet das Legal Team der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Nach dem Rechtsreferendariat in Berlin und Hongkong arbeitete er drei Jahre für eine Wirtschaftskanzlei. Dann kündigte er, um seinen Roman „Der Würfel“ zu schreiben (2019, Atrium). 2022 erschien von ihm bei Hoffmann und Campe „Unser gutes Recht. Was hinter den Gesetzen steckt“ – ein anekdotischer Überblick über das, was unsere Gesellschaft zusammenhält.

Bijan Moini
© Thomas Friedrich Schäfer
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