10 Jahre Finanzkrise

Wirtschaftswissenschaft auf dem Prüfstand

Obere Hälfte einer italienischen Ein-Euro-Münze vor schwarzem Hintergrund.
Die Finanzkrise 2008 habe wenig verändert, weil es genug Profiteure der Krise gebe, sage der Kulturwissenschaftler Joseph Vogel © picture alliance / Karl-Josef Hildenbrand
Joseph Vogl im Gespräch mit Christian Möller · 21.01.2018
Die 2008 ausgebrochene Finanzkrise wirkt bis heute nach. In den USA steht womöglich schon die nächste Krise bevor, meint der Kulturwissenschaftler Jospeh Vogel. Sein Rat an die Wirtschaftswissenschaft: Sie sollte ein höheres Bewusstsein für unerwartete Dynamiken entwickeln.
Die Ökonomie sei aus der Moralphilosophie hervorgegangen und trage nach wie vor eine moralphilosophische Last, sagt der Literatur- und Kulturwissenschaftler Joseph Vogl. Besonders befremdend sei dabei, "dass eine Wissenschaft, die sich mit sozialen Prozessen beschäftigt, die sich auch mit der Geschichte dieser Prozesse auseinandersetzt, und die vor allem Sozialverhalten interpretiert, dass diese Wissenschaft sich in bestimmten Bereichen als Naturwissenschaft begreift, als angewandte Mathematik oder Physik." Dieser Art, soziale Prozesse und wirtschaftliche Verhaltensmuster nach naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zu formalisieren, steht Vogl skeptisch gegenüber: Man sollte das Selbstverständnis der Makroökonomie grundsätzlich in Frage stellen, fordert Vogl.
Es sei für ihn überraschend gewesen, dass die sogenannte Krise von 2008 mit einem auffällig apokalyptischen Vokabular beschrieben wurde. "Überraschend deswegen, weil seit Ende der achtziger Jahre Krisen dieser Art dauernd passierten. Finanzcrashs waren eigentlich nicht sonderlich ungewöhnlich." Leider gebe es in den gängigen makroökonomischen Theorien so gut wie keine Erklärungen dafür, wieso es immer wieder zu kleineren Crashs auf dem Finanzmarkt komme.

Begriff "Krise" inflationär verwendet

Auf den Begriff der Krise solle man lieber verzichten, meint Joseph Vogl, denn er werde momentan inflationär verwendet. Der Begriff habe eine doppelte Herkunft, erklärt er: Zunächst stammt er aus der antiken Rechtslehre und der Medizin. Im neunzehnten Jahrhundert sei der Begriff Krise dann in die Ökonomie eingewandert. Der Begriff passe aber nicht mehr in die Welt der heutigen Finanzsysteme. Joseph Vogl vertritt die Auffassung, unser heutiges Finanzsystem, das sich in den achtziger Jahren entwickelte, habe eine instabile Bauform. Bisher gebe es wenig Ökonomen, die über die Logik dieser Instabilität nachgedacht hätten. "Strukturelle Instabilität" wäre Vogls Meinung nach die richtige Beschreibung, weil wachsende Finanzmärkte und steigende Aktienkurse eine Dynamik besäßen, die bald wieder eine Krise herbeiführen könnten.
Man habe die Finanzkrise von 2008 nicht vorausgesehen, so Vogl, weil die Akteure im Finanzsektor längst den Überblick über die Märkte verloren hätten. Man könne auch nur bedingt in das Geschehen eingreifen.

Wirtschaftswissenschaft auf Basis von Newton nicht zeitgemäß

Die ökonomische Wissenschaft, die sich im 18. Jahrhundert formierte, habe sich an der Naturwissenschaft, besonders an der Physik von Isaac Newton, orientiert: also an einem System des allgemeinen Gleichgewichts, das nach der Gravitationslogik des Universums funktioniere. Man glaubte, so Vogl, der Markt wäre ein Ort, an dem so etwas wie eine natürliche Gesetzmäßigkeit herrsche. Eine Wissenschaft zu betreiben, die auf Newton und dessen Gravitation fußt und gleichzeitig von der Annahme ausgeht, man würde gottähnlich nichts falsch machen, so Vogl, sei nicht mehr zeitgemäß.
Die ökonomische Prognose sei an die Stelle der göttlichen Vorsehung getreten, führt Vogl aus: Seit der Säkularisierung gebe es Prognosen aller Art: Zwischen Wettervorhersagen und ökonomischen Prognosen gebe es einen entscheidenden Unterschied: "Wenn man einen Wetterbericht formuliert, dann ändert sich das künftige Wetter aufgrund des Berichtes nicht. Wenn aber eine Jahresprognose für die wirtschaftliche Entwicklung abgegeben wird, dann wird diese Information sofort in das Marktwissen eingespeist und verändert dann das Verhalten der Akteure zum Markt. Hier gibt es Rückkopplungsverhältnisse."
Die Finanzkrise 2008 habe wenig verändert, weil es genug Profiteure der Krise gebe. Die Ungleichverteilung von Vermögen und Einkommen sei größer geworden. Es gebe eine Konzentration von Kapital in wenigen Händen. Und in den Vereinigten Staaten bereite sich das nächste Krisenszenario vor, so Vogl.

Wenig Hoffnung auf Bitcoin

Die Reformvorschläge, die nach 2008 debattiert wurden, seien schnell klammheimlich in Vergessenheit geraten. Diese Vorschläge gelte es wieder aufzugreifen: "Das Trennbankensystem, also die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken oder die weltweit höhere Besteuerung von Kapitalerträgen und die Einrichtung von Transaktionssteuern, dass diese Themen erneut diskutiert werden und dann Maßnahmen folgen."
Von den neuen Digitalwährungen hingegen verspricht sich Vogl keine Verbesserung. Bitcoin bezeichnet er als ein liberalistisches Missverständnis: Geld sei erstens ein Zahlungsmittel und zweitens am besten in privaten Händen aufgehoben. Bitcoin habe sich sehr schnell zum Spekulationsgegenstand entwickelt. Es gehe aber darum, Geld als politisches Instrument zu begreifen, das nicht einfach nur Zahlungsmittel sei, sondern auch Kreditmittel. Diese beiden Aspekte seien bei Bitcoin nicht bedacht worden.

Weniger Vertrauen in Logik der Märkte

Die Finanzökonomie müsse ihren instrumentellen Charakter zurückgewinnen, als eine "Maschine", die die Investitionsmöglichkeiten, also das Kapital bereitstellt. Im Augenblick hingegen sieht Vogl sie als eine reine Bereicherungsmaschine. Das heiße auch, dass Investitionen in Finanzmärkte attraktiver seien, als in Fixkapital und Infrastruktur. "Das ist der Scheideweg, den man mit dieser Finanzökonomie vor sich hat", so Vogl.
Angesichts der vorgetragenen Kritik: Sollte sich die Ökonomie, statt ihren naturwissenschaftlichen Anspruch zu verteidigen, zu einer geistes- und sozialwissenschaftlich orientierten Wissenschaft entwickeln? Das wäre riskant, aber vielversprechend, betont Vogl: Durchaus sinnvoll fände er, das Vertrauen, über das die Wirtschaftswissenschaft immer noch verfügt, zu enttheologisieren und sich damit abzufinden, dass wir es auf den Märkten mit offenen, also nicht erwartbaren und nicht planbaren Prozessen zu tun haben. Er fordert: Man solle mit einem geringeren Vertrauen in die Logik der Märkte ein höheres Bewusstsein für unerwartete Ereignisse und Dynamiken entwickeln.
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