Soziologe: Marktgläubigkeit in der deutschen Wirtschaftswissenschaft

Michael Hartmann im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 11.04.2012
Nachwuchswissenschaftler könnten sich abweichende Meinungen nicht leisten, sagt der Elite- und Organisationssoziologe Michael Hartmann (TU Darmstadt). Er ist einer der Unterzeichner des Memorandums für die Erneuerung der Wirtschaftswissenschaft.
Korbinian Frenzel: Marxismus, Leninismus – wenn Sie das heute noch an unseren Unis finden würden in den Lehrplänen, dann empfänden Sie das ohne Frage zu Recht als etwas aus der Zeit gefallen. Die Lehre vom freien, alles regelnden Markt, die ist sicherlich nicht ganz so grandios gescheitert wie der Sozialismus, aber dass man uneingeschränkt an sie glauben sollte, davor würden heute nach der Wirtschafts- und Finanzkrise wahrscheinlich auch viele warnen. Viele, aber nicht alle – und ausgerechnet die, die sich eigentlich am besten damit auskennen müssten, die Wirtschaftswissenschaftler, die scheinen noch immer vorwiegend an der alten Marktideologie zu hängen. Das sagen zumindest 98 Professoren, die sich selbst zu den kritischen zählen und die jetzt ein Memorandum für die Erneuerung der Wirtschaftswissenschaften veröffentlicht haben. Einer der Unterzeichner ist Michael Hartmann, Professor für Elite- und Organisationssoziologie an der TU Darmstadt, jetzt am Telefon. Guten Morgen!

Michael Hartmann: Guten Morgen!

Frenzel: Herr Hartmann, bringt man Wirtschaftsstudenten in Deutschland das Falsche bei?

Hartmann: Na ja, es ist einfach eine Tradition in den letzten 20 Jahren festzustellen, die die ganze Disziplin dominiert. Also es kursierte immer schon so ein Scherz, dass sich die Volkswirtschaftslehre in Richtung der angewandten Mathematik entwickelt hat, was sagen soll, dass bestimmte Voraussetzungen definiert werden und ansonsten in sehr komplexen Computerprogrammen eben auf Basis dieser Voraussetzungen etwas errechnet wird, und das ist ja schon häufiger schiefgegangen. Also man erinnert sich heute kaum noch dran, dass das erste Mal, dass es einen richtig großen Hedgefonds erwischt hat, das war ein Hedgefonds, der von zwei Nobelpreisträgern gemanagt worden ist, die für ihre Berechnungen den Nobelpreis erhalten haben, und die ist damals in der Wirklichkeit grandios gescheitert.

Frenzel: Dann könnte man ja sagen, die haben sich nur verrechnet.

Hartmann: Die Voraussetzungen der Berechnungen sind vollständig – die haben sich nicht verrechnet, weil die Rechenprogramme sind perfekt, aber sie haben eben Voraussetzungen für ihre Formeln genommen, die mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, was man feststellen kann. Und das kann ich jetzt als Nicht-Wirtschaftswissenschaftler eben auch besser beurteilen, dass in den Wirtschaftswissenschaften die Auseinandersetzung mit so etwas wie Wirtschaftsgeschichte, mit historischen Entwicklungen, dass das fast überhaupt nicht mehr stattfindet, das heißt, die Empirie allenfalls noch am Rande erfolgt. Und man muss ja seine eigenen Formeln regelmäßig überprüfen, ansonsten zeigt einem die Wirklichkeit, was von den Formeln zu halten ist, und das ist nun schon mehrfach erfolgt, am dramatischsten sicherlich in der Finanzkrise.

Frenzel: Sie kritisieren die Marktgläubigkeit der vorherrschenden wirtschaftswissenschaftlichen Lehre, aber ist nicht genau das der Dreh- und Angelpunkt von jeder Wirtschaft, dass es eben einen Markt gibt und damit auch Gewinnstreben, muss also nicht auch jede Theorie davon ausgehen, dass das die Grundvoraussetzungen sind?

Hartmann: Unter den heutigen Bedingungen muss die Theorie davon ausgehen, das ist ja nicht das Problem. Nur die Theorie hat ja sehr viel mehr Voraussetzungen, also zum Beispiel der berühmte Homo oeconomicus. Es gibt ja inzwischen auch in den Wirtschaftswissenschaften eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, allerdings weniger in Deutschland als vielmehr im Ausland, die sich damit beschäftigen, warum der Homo oeconomicus nicht der Wirklichkeit entspricht.

Frenzel: Also der Mensch, der sich nur nach ökonomischen, ja, nach Marktgesichtspunkten richtet?

Hartmann: Ja, da fließen Voraussetzungen ein, die der Wirklichkeit nicht entsprechen. Erstens ist dieser Homo oeconomicus über alle wichtigen Tatbestände bestens informiert, was in der Wirklichkeit nicht der Fall ist. So etwas wie Herdentrieb, das heißt, dass man sich einfach einer Entwicklung anschließt, weil alle anderen das auch machen, was an den Börsen regelmäßig zu beobachten ist nach oben wie nach unten, wird ausgeblendet. So könnte man eine Reihe von Punkten angeben, und das ist das Problem bei diesen ökonomischen Modellen, dass sie schlicht und einfach mit einer Unmenge an Voraussetzungen operieren, die in der Wirklichkeit entweder nicht überprüft werden oder aber was noch schlimmer ist, die von der Wirklichkeit wiederlegt werden, wie das im Augenblick der Fall ist, und trotzdem weiter in der Theorie dominant sind.

Frenzel: Was glauben Sie, woran liegt das, dass die Theorie sich da nicht verändert? Ist sie dazu nicht in der Lage?

Hartmann: Das Problem liegt daran, dass natürlich Personen – und das gilt für die meisten Wissenschaftler – sehr ungern einräumen, dass sie falsch liegen. Das ist nun keine Besonderheit der Wirtschaftswissenschaftler, das finden sie querbeet. Das Problem ist, wenn in einer Wissenschaft eine bestimmte Denkrichtung so dominant ist, dass alle anderen Möglichkeiten, die man ja auch immer mitdenken muss, egal ob die Wirklichkeit nun gerade dem einen oder dem anderen oberflächlich Recht gibt, dass alle anderen Wirklichkeitsinterpretationen an den Rand gedrängt werden, und das ist ja der Kern dieses Aufrufs, das können wir in Deutschland feststellen, sodass eine Interpretation so dominant geworden ist, dass sie die Fachzeitschriften beherrscht, die Ausschüsse bei der DFG, dass sie in dementsprechenden Berufungskommissionen dominant ist, und Nachwuchswissenschaftler über einen langen Zeitraum, wollten sie eine Professur erreichen, sich am besten an diese Vorgaben gehalten haben.

Frenzel: Sie erheben den Vorwurf der akademischen Prostitution. Ist das das, was Sie da gerade bezeichnet haben? Also das heißt, man muss sich nach der herrschenden Lehre richten?

Hartmann: Ja, das ist ein Phänomen, was man quer durch die Wissenschaften beobachten kann, das gilt nicht nur für die Wirtschaftswissenschaften, obwohl in Deutschland in diesem Bereich nun besonders stark. Das hat einfach damit zu tun, dass es in allen Wissenschaften zumindest für einen bestimmten Zeitraum dominante Sichtweisen gibt, und dass jeder, der sich dagegen äußert, es erstmal sehr schwer hat. Und eine vernünftige wissenschaftliche Diskussion bedeutet, dass man offen ist für andere Sichtweisen.

Frenzel: Ist das nicht gerade auch die Chance für Wissenschaftler, mit Minderheitenmeinungen, mit ja noch eher weniger bekannten, weniger populären Thesen auf sich aufmerksam zu machen?

Hartmann: Ja natürlich, aber wenn sie als junger Nachwuchswissenschaftler heute die Situation sich angucken, die relativ wenigen Professuren, die zur Verfügung stehen, dann tun Sie, wenn Sie an die Karriere denken, gut daran, erst mal im Mainstream zu schwimmen, denn wenn Sie eine abweichende Meinung haben, werden Sie es außerordentlich schwer haben, in die berühmten Journals reinzukommen, und diese berühmten Journals machen Karrieren heutzutage, weil Berufungskommissionen sich immer stärker an diesen Kriterien wie Journal Impact Factor und Ähnlichem orientieren. Und da muss man als Nachwuchswissenschaftler schon ein sehr starkes Rückgrat haben, um dem zu widerstehen. Und das bedeutet, eine Wissenschaft ist umso stärker in der Gefahr, dass Nachwuchswissenschaftler sich nur am Mainstream orientieren, je stärker dieser Mainstream alle Journals und alle Fachausschüsse beherrscht. Und die Forderung ist ja, dass es mehr Offenheit einfach gibt für solche Diskussionen, und die Wirtschaftswissenschaften in Deutschland sind nun ein Prototyp einer besonders hermetisch abgeschlossenen Wissenschaft.

Frenzel: Wie könnte man das ändern, was wäre dafür notwendig?

Hartmann: Ja, dafür wäre notwendig, dass denjenigen, die den Mainstream verkörpern, auch deutlich wird, dass eine Offenheit für eine Wissenschaft unverzichtbar ist, dass es nicht nur darum geht, Machtpositionen zu behaupten, sondern dass es darum geht innerhalb einer Wissenschaft verschiedene Ansätze offen zu diskutieren im Sinne einer machtfreien Diskussion. Nun ist Wissenschaft nie frei von Macht, aber man muss zumindest versuchen, dem Anspruch nach diese offene Diskussion zu führen und nicht einfach qua Herausgeberschaft oder qua Stellung in der Scientific Community, in Berufungskommissionen oder sonst unbequeme Ansätze vollkommen an den Rand zu drängen.

Frenzel: Wissenschaftler protestieren mit einem Memorandum gegen die herrschende Lehre in der Wirtschaftswissenschaft und die akademische Prostitution. Professor Michael Hartmann von der TU Darmstadt war das im Gespräch. Herzlichen Dank dafür!

Hartmann: Herzlichen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.


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