Philosophischer Wochenkommentar

"Wir lassen das" als wahres Motto deutscher Politik

Angela Merkel, Bundeskanzlerin und Vorsitzende der Christlich Demokratischen Union (CDU), äußert sich bei einer Pressekonferenz.
Bundeskanzlerin Angela Merkel folgt wie Thatcher dem sogenannten TINA-Prinzip: "There is no alternative" - "Es ist alternativlos". © imago/photothek
Von Arnd Pollmann · 04.03.2018
Wer in der Politik eine "Alternativlosigkeit" preise, brauche sich nicht zu wundern, wenn selbsternannte "Alternativen" bei der Sonntagsfrage zulegten, sagt Arnd Pollmann. Eine Politik, die sich diesem Prinzip unterordne, sei eine "gestaltungsunwillige Politik".
Am 25. November 1973 greift die west-deutsche Bundesregierung zu einer unkonventionellen Sparmaßnahme: Sie erlässt ein frühes Fahrverbot. In Reaktion auf die weltweite Öl- und Wirtschaftskrise wird ein "autofreier Sonntag" anberaumt. Zur selben Zeit und ebenfalls in Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise beginnt in vielen westlichen Demokratien das, was man den "neoliberalen" Rückbau des Sozialstaats genannt hat: Thatcher in Großbritannien und Reagan in den USA starten ein Deregulierungsprogramm auf Kosten der sozialen Sicherheit, das später auch hierzulande mit Schröders "Agenda 2010" einen traurigen Höhepunkt erleben wird.
Vor dem Hintergrund dieser historischen Konstellation führt ein direkter Weg von der Essener "Tafel", wo Hartz IV-Empfänger mit Flüchtlingen um abgelaufene Lebensmittel konkurrieren, hin zu den jüngsten Dieselfahrverboten. Beide nämlich erweisen sich bei genauerer Hinsicht als politische Sparmaßnahmen im Dienste einer eigentümlichen Form von Privatisierung.

Zu wenig Essen in Essen

Wie immer man zu dem Entschluss der Essener "Tafel" stehen mag, den wachsenden Andrang von Flüchtlingen abzuwehren: Scheinheilig wirkten all die empörten Reaktionen aus Regierungskreisen. Der SPD-Sozialexperte Karl Lauterbach etwa twitterte: "Schade, Ausländerhass sogar bei den Ärmsten angekommen". Als ob man nicht selbst für gut 20 Jahre verfehlte Sozialpolitik und das Versagen bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise mitverantwortlich wäre.
Die Kanzlerin stotterte mit Blick auf die Vorkommnisse bloß: "Das ist nicht gut". Und anschließend wunderte sie sich gar, "wieviele Menschen auf so etwas angewiesen sind". Sie weiß bis heute nicht, was genau sie mit dem legendären Satz "Wir schaffen das" sagen wollte. Und schon damals hat sie mit der anheimelnden Beschwörung eines solidarischen "Wir" alle anderen gemeint – nur nicht die Regierenden. Das bürgerschaftliche Engagement werde es schon richten und damit die Politik auf perfide Weise entlasten.

Dicke Berliner Luft

Um eine ähnlich symptomatische Privatisierung politischer Notlagen geht es auch beim Diesel-Skandal. Die Politik hat vor der Automobilindustrie kapituliert. Im zuletzt verhandelten Koalitionsvertrag findet sich kein einziges Wort dazu. Eine gestaltungsunwillige Politik stiehlt sich aus der Verantwortung und unterwirft sich dem seit Thatcher sogenannten TINA-Prinzip: "There is no alternative".
Angesichts der normativen Kraft des Faktischen müssen scheinbar auch eiserne Ladies passen. Aber natürlich ist das nur ein rhetorisches Ausweichmanöver, das vor allem der Selbstimmunisierung gegen Kritik dient. Und dann kann man eben tatenlos zusehen, wie die Automobilwirtschaft all den fassungslosen Verbrauchern dreist empfiehlt, sich rasch ein neues Fahrzeug zu kaufen.

Do it yourself

Diese regierungsamtliche Unterwerfung unter das Diktat des real existierenden Neoliberalismus, der Armut produziert und die Umwelt zerstört, setzt auf das zivilgesellschaftliche "Do it yourself"-Prinzip. Man verkauft die eigene Gestaltungsunwilligkeit als Gewährung einer neuen "Freiheit" der privaten Selbststeuerung, die aber eben zugleich auch eine Freiheit von sozialer Absicherung ist. Nur um dann auch noch per Twitter auf all die drauf zu hauen, die sich von der Zumutung dieser ambivalenten Freiheit überfordert sehen.
Wer die Alternativlosigkeit preist, braucht sich nicht wundern, wenn selbsternannte "Alternativen" bei der Sonntagsfrage zulegen. Nimmt man das TINA-Prinzip ernst, verkommt die Politik zur Technokratie, und eben das ist das Ende jeder Politik – wenn damit die öffentliche Auseinandersetzung um die richtige Gestaltung der res publica gemeint sein soll. Entgegen eines berühmten Orakelspruchs von Helmut Schmidt sollten wohl besser einmal diejenigen zum Arzt gehen, die keine Visionen haben.
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