Neoliberalismus und Sprache

"Zartgefühl ist der Komplize der Brutalisierung"

Nachdenklich und traurig blicken drei Frauen auf den Boden.
Unsere Gesellschaft beschäftigt sich viel zu oft mit ihrem Zartgefühl statt die politischen Konflikte dahinter zu erkennen, behauptet Robert Pfaller. © imago stock&people / Mary Anne Smith
Robert Pfaller im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 24.11.2017
Ist unsere Gesellschaft zu empfindlich? Zartfühlende Sprachpolitik und Verständnis für "irgendwelche möglichen Verletzlichen" verstellen den Blick auf die wahren Probleme und ihre Lösung, behauptet der österreichische Kulturtheoretiker Robert Pfaller.
Liane von Billerbeck: Wie viel müssen erwachsene mündige Bürger aushalten können? Der österreichische Kulturtheoretiker und Philosoph Robert Pfaller, Autor des Erfolgsbuches "Wofür es sich zu leben lohnt", der diagnostiziert in seinem neuen Buch eine Überempfindlichkeit in unserer Gesellschaft, die uns den Blick auf die wahren Probleme nimmt und die Fähigkeit zu erwachsenen Lösungen. Robert Pfaller, ich grüße Sie!
Robert Pfaller: Schönen guten Tag, Frau von Billerbeck!
Billerbeck: Ihr Buch "Erwachsenensprache: Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur" hat den Anfang genommen auf einem Flug in die USA und begann da mit einer Art Wut. Sie wollten nämlich bei diesem Flug Michael Hanekes Film "Amour" sehen, und bevor der losging, wurde erst mal eine Warnung eingeblendet, der Film enthalte Erwachsenensprache, und Sie haben sich geärgert. Warum?
Pfaller: Wenn die sagen würden, der Film ist erst ab über 18 oder sowas, das wäre ja in Ordnung, aber dass man erwachsene Menschen davor warnt, dass Erwachsenensprache kommt, das zeigt doch, dass man dort offenbar nicht mehr selbstverständlich von jedem erwarten darf, dass der Erwachsene Erwachsenensprache aushält. Da sind wir in Europa zum Glück noch ein bisschen anders. Das ist ein ganz schöner Zustand, dass das, was Erwachsenensprache bezeichnet, bei uns eher etwas Positives und nichts Anstößiges ist.

Ein Wettkampf der Opfer

Billerbeck: Ich versuche mal kurz die Diagnose Ihres Buches zusammenzufassen, das ist natürlich ein bisschen tollkühnes Unterfangen, dessen bin ich mir bewusst: Wir leben in der Postmoderne, und die hat in Zustände zurückgeführt, die wir eigentlich überwunden glaubten, also mal außer Wohlstand für alle, gleiche Rechte und Chancen, ist die Postmoderne noch einen Schritt weitergegangen, und wir nehmen jetzt Rücksicht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Menschen. Das klingt erst mal gut, hat aber dazu geführt, dass man zugunsten dieser Unterschiedlichkeiten das Allgemeinwohl preisgegeben habe, sagen Sie, und das sei eine Art Wettkampf der Opfer in Gang gesetzt worden, darüber, wer am benachteiligsten ist, und daran beteiligen sich auch an diesem Wettkampf Gremien, Institutionen und Politiker. Warum, bitte schön?
Pfaller: Nun, ich glaube, man muss einfach zwei Entwicklungen hier parallel lesen: Auf der einen Seite haben sich die Verhältnisse unglaublich brutalisiert, wenn jedes fünfte deutsche Kind unter der Armutsgrenze lebt in so einem reichen Land, dann kann doch irgendwas nicht ganz richtig gelaufen sein, und auf der anderen Seite sind genau diese Entwicklungen, die dann immer härtere Verhältnisse hervorgebracht haben, von einer Kultur begleitet worden, die ein immer zartfühlenderes Verständnis für irgendwelche möglichen Verletzlichen entwickelt hat, und ich denke, dass dieses Zartgefühl, das ja zunächst emanzipatorisch und sozial anmutet, in Wirklichkeit der Komplize dieser Brutalisierung in der Gesellschaft ist. Also wenn jeder nur noch sagen muss, in welcher Hinsicht er irgendeiner benachteiligten Gruppe angehört, bevor er ein Argument vorbringt, dann ist dieser Standard verlassen.
Billerbeck: Ein Freund von mir, der ist Schriftsteller von Beruf, der hat mal empfohlen, alle Zahlungen nur noch unter eine Überschrift zu stellen, nämlich Entschädigung, dann fühle sich jede Opfergruppe gut behandelt.
Pfaller: Ich glaube, man muss vielleicht noch hinzufügen, dass es vielleicht in Wirklichkeit noch schlimmer ist, denn durch dieses Zartgefühl nützt man nicht einmal den geschädigten Gruppen selber. In Wirklichkeit ist doch das, was passiert ist, dass man das Leid miniaturisiert, man rückt es weg davon, dass Leute erschossen werden von der Polizei oder dass sie in überdurchschnittlichen Proportionen im Gefängnis landen, und verschiebt es daraufhin, wie man diese Leute bezeichnet, und dann wird man immer feiner, und das dürfen Sie auch nicht bezeichnen, jetzt haben wir wieder ein neues Wort, sagen wir so und so weiter.
Billerbeck: Es wird also klar, wenn ich Ihnen zuhöre, es geht nicht nur um Erwachsenensprache, es geht um Erwachsenheit, was für Sie ja auch heißt, seine Probleme selbst lösen, also weniger über die Befindlichkeiten reden. Nun hatten wir in den letzten Wochen diese Debatte um "me too" und um sexuelle Übergriffe gegen Frauen. Wir müssen jetzt nicht über die großen strafbaren Übergriffe reden, da ist ja alles ganz klar, aber wie ist das mit diesen kleinen Herabwürdigungen, wenn ein männlicher Chef seine Mitarbeiterin schlicht zur Zicke erklärt, wenn sie dagegen aufbegehrt, wegen ihres Geschlechts für unfähiger gehalten zu werden – was ist da überempfindlich, und was ist das, mit dem wir uns erwachsen auseinandersetzen müssen?

Ein harter Verteilungskampf zwischen Jungen und Alten

Pfaller: Nun, ich fürchte, auch die Aufregung um "me too" ist problematisch, wenn sie eine klischeehafte Erzählung hat. Es geht um Chefs gegen jüngere Mitarbeiterinnen. Es geht auch – das war ja der Auslöser – um Mitarbeiterinnen, bei denen Sex die Gegenleistung für Ermöglichung hochbezahlter Karrieren ist. Also es geht auch nicht um das große vielfach erfahrbare Leid von vielen Frauen in allen möglichen Branchen, die belästigt, verachtet werden, ohne dass sie dafür irgendwas Besseres in Aussicht gestellt bekommen. Also auch die "me too"-Debatte läuft, glaube ich, Gefahr, ein sehr spezifisches Problem ganz bestimmter Berufseliten für exemplarisch zu erklären, wie in den Branchen Film, Journalismus, Politik, wo im Moment eben im Moment ein sehr harter Verteilungskampf läuft, wenn die 30-Jährigen ahnen, dass sie nicht die Jobs bekommen werden, die die 50-, 60-Jährigen jetzt noch innehaben.
Billerbeck: Wir erleben gerade viel empfundene Ohnmacht und Wut in der Gesellschaft, weil sich bestimmte Gruppen nicht gehört fühlen, und da haben es dann Rechtspopulisten, zum Beispiel die AfD in Deutschland, auch recht einfach. Die hat ja auch offenbar einiges begriffen: Manche Wähler, die fühlen sich vielleicht als Opfer, aber die Partei, die tritt genau nicht als Opfer auf, sondern behauptet sogar, eine Mehrheit, das "Volk", in Anführungsstrichen, zu sein. Wenn wir uns die Reaktionen auf das Erstarken der AfD ansehen, also vom Verschweigen bis zur Empörung, jede provozierende Äußerung, die wurde da gemeldet und diskutiert, bis zur Debatte, ob man mit denen überhaupt reden sollte. Wie erwachsen finden Sie diese Reaktionen auf die AfD, auf Populisten generell?

Zwischen Schönsprech und Saubersprech

Pfaller: Na ja, ich fürchte, dass die Linke oder die wohlmeinende gesellschaftliche Mitte hier der populistischen Rechten sehr gute Angriffsflächen geliefert hat. Das weit verbreitete Gefühl in der Gesellschaft, die Eliten zwingen uns einen Jargon auf, der irgendwie so ein Schönsprech und Saubersprech ist, und wir können nicht mehr so reden wie uns der Schnabel gewachsen ist, oder auch das Gefühl, dass jetzt …, viele Leute haben angesichts der "me too"-Affäre …, da schreien irgendwelche Opfer auf, die Vorwürfe sind noch überhaupt nicht geprüft, aber die Beschuldigten sind eigentlich schon ruiniert. Kevin Spacey wird aus allen Hollywood-Filmen jetzt rausgeschnitten, gewaltige Schäden und Aushöhlung aller rechtlichen Standards von Anhörung von Beschuldigten, von Beweiswürdigung, Unschuldsvermutung und so weiter. Das wird vielleicht nicht ganz zu Unrecht einer bestimmten Mitte-Links-Position in der Gesellschaft zugeschrieben, und viele Leute denken sich, müssen wir uns wirklich vorschreiben lassen, wie wir sprechen, und wo bleibt eigentlich der Standard des guten zwanglosen Lebens, wo man vielleicht auch mal scherzen kann und wo nicht alles so ernst gemeint ist. Genau diese Terrains besetzt die Rechte jetzt, und es genügt ja auch, dass sie ein bisschen flegelhaft auftritt, ein paar Obszönitäten ausspricht, wie der amerikanische Präsident, das genügt denen einfach auf der symbolischen Ebene, hier ein paar kleine Fauxpas zu begehen, damit die einfachen Leute gar nicht mehr fragen, zu welcher ökonomischen Politik stehen die denn ein und finden das wirklich die Anwälte der kleinen Leute, wie sie immer behaupten. Das können sie allein schon durch diese Sprachpolitik glaubhaft machen, und das ist, glaube ich, einer der größten politischen Fehler und Feden, den diese zartfühlende Sprachpolitik der neoliberalen Linken hervorgebracht hat.

Was ist das Politische dieser Konflikte?

Billerbeck: Zum Schluss deshalb die Gretchenfrage: Wie kommen wir denn nun von einer Erwachsenensprache und -haltung zu echten politischen Veränderungen?
Pfaller: Wir müssen bei jedem Konflikt und an jeder Konfliktstelle uns fragen, was ist das Politische daran, und ich glaube, es gibt im Moment bei vielen Konflikten die Tendenz, die Konflikte zu entpolitisieren, und dem müssen wir entgegentreten. Was der Neoliberalismus gemacht hat war immer, die Menschen bei ihrer größten Schwäche anzurufen und an sie zu appellieren zu sagen, was ist der Punkt, wo du dich am allermeisten benachteiligt fühlst, und dann suchen alle … bin Frau, lesbisch, schwarz, so etwas, behindert, und wenn ich da irgendwelche Punkte sammeln kann, dann habe ich gegen meine Konkurrenten gewonnen, und das ist, glaube ich, die entpolitisierende Form von Appell. Wir müssen dem einen anderen Appell entgegenstellen. Alle fortschrittlichen Appelle haben immer so einen Ton gehabt wie "alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will". Ich glaube, das wäre die Form vom politisierenden Appell, auf den wir in Zukunft stärker achten sollten, und alle anderen Appelle, glaube ich, sollten wir zurückweisen.
Billerbeck: Der österreichische Kulturtheoretiker und Philosoph Robert Pfaller, dessen neues Buch "Erwachsenensprache: Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur" jetzt bei S. Fischer erschienen ist. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Pfaller: Ich danke!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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