Neuer Trend in der deutschsprachigen Literatur

Geschichtslust - der Boom historischer Stoffe

Ein Denkmal Friedrich des Großen (1712-1786) - Friedrich II. - in Kloster Zinna
Friedrich der Große - über ihn und seine Homosexualität hat Michael Roes mit "Zeithain" einen Roman geschrieben © picture alliance / dpa / Ralf Hirschberger
Helmut Böttiger im Gespräch mit Frank Meyer · 21.09.2017
Im Herbst erscheinen eine ganze Reihe deutschsprachiger Romane, die um historische Stoffe und Persönlichkeiten komponiert sind: Wir sprechen mit Helmut Böttiger darüber, woher die neue Lust an den historischen Stoffen kommt - bei Literaten und bei Lesern.
Frank Meyer: Wenn man sich die Ankündigungen anschaut für die neue deutsche Literatur in diesem Herbst, dann staunt man, denn man sieht dort überall Stoffe aus der Geschichte.
Daniel Kehlmann schreibt zum Beispiel über Till Eulenspiegel, eine Figur ursprünglich aus dem 14. Jahrelang, Michael Roes schreibt über das alte Preußen des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm, Michael Köhlmeier hat eine Novelle über Antonius von Padua veröffentlicht, ein Heiliger aus dem 13. Jahrhundert, und es gibt noch eine Reihe mehr solcher Beispiele.
Der Schriftsteller Helmut Böttiger
Der Schriftsteller Helmut Böttiger gibt Auskunft über den Boom historischer Stoffe in der deutschsprachigen Literatur© picture alliance / dpa
Der Literaturkritiker Helmut Böttiger hat sich für uns diese neue Lust an der Geschichte angesehen, wobei wir erst mal klären müssen, ist die überhaupt so neu? Gab es auch früher schon so viele historische Romane von anerkannten Autoren?

Unübersichtliche Gegenwart

Helmut Böttiger: Ja, das gab es eigentlich schon immer mal. Das ist immer so zeitabhängig. Wenn die Gegenwart zu unübersichtlich wird und zu bedrohlich erscheint, dann gibt es eine Konjunktur an historischen Stoffen. In der frühen Bundesrepublik der Adenauer-Zeit, wo man sehr viel zu verdrängen hatte, da fällt es auf, dass antike Stoffe eine große Rolle spielten. Der Sachbuchbestseller "Götter, Gräber und Gelehrte" war der absolute Bestseller. Frank Thies, Walter Jens hatten antike Stoffe genommen. Oder ein anderes interessantes Beispiel ist die DDR der siebziger Jahre, wo man den Entfremdungsmechanismen der Gesellschaft einen Spiegel vorhielt. Da war die Romantik plötzlich eine ganz große Folie – Christa Wolf, "Kein Ort, nirgends". Also, wenn etwas zu bedrohlich erscheint in der Gegenwart, zu komplex, dann ist die Möglichkeit entweder positiv oder negativ zu bewerten, dass man der Gegenwart einen Spiegel vorhalten kann.
Der Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Kritiker Walter Jens am 19.05.1989 in Köln bei einer Sitzung des P.E.N. Zentrums.
Der Schriftsteller Walter Jens© picture alliance/ dpa / Achim Scheidemann
Meyer: Auf diesen Vorwurf, den Sie da formulieren an die Gegenwartsliteratur, will ich gleich zurückkommen, aber erst mal zur Klärung, worüber wir eigentlich reden: Es gibt ja ständig eine Flut von historischen Romanen, eben als Genre-Literatur. Das, worüber wir hier reden wollen, ist was anderes. Aber wie grenzt man das eigentlich ab?

Flucht vor oder Spiegel der Gegenwart

Böttiger: Genreliteratur, die Historicals, die hat es natürlich schon immer gegeben. Das bürgt für große Bestseller. "Medicus" oder "Hebamme" oder "Wanderhure" – da kriecht man in eine Vergangenheit, um programmatisch im Grunde der Gegenwart zu entfliehen, irgendwo einzutauchen, am besten mit einfachen identifizierbaren Gefühlen. Interessant ist natürlich, wenn die Gegenwart gespiegelt wird, auch die Komplexität der Gegenwart. Wenn in der Vergangenheit eine Struktur aufgesucht wird, die auch etwas erklärt, wie wir uns heute fühlen. Und das sind die Romane, die natürlich interessant sein können.
Portrait von Michael Roes.
Michael Roes im Deutschlandfunk Kultur.© Deutschlandradio – Malte E. Kollenberg
Meyer: Die interessant sein können. Nun haben Sie aber hier diesen Vorwurf erhoben, die Autoren flüchteten mit diesen historischen Stoffen aus einer als unübersichtlich, unbequem empfundenen Gegenwart, also wichtige Autoren, eben wie Michael Köhlmeier, Daniel Kehlmann, Michael Roes. Wie können Sie das belegen, dass das wirklich eine Flucht ist?

Bedeutungsverlust der Literatur

Böttiger: Ich meine natürlich nicht alle Bücher, aber die Gefahr ist immer vorhanden. Es kommt immer drauf an, auf welcher Seite es ausschlägt. Interessantes Beispiel jetzt ist ein Roman über die zweite Frau von Theodor Storm von Jochen Missfeldt, "Sturm und Stille". Der sichert sich im Eingangskapitel sehr stark ab, indem er in der Gegenwart einen alten Mann reflektieren lässt, und das Zimmer ist dunkel, man sieht das rote Licht der Computersignale, es ist also unverkennbar Gegenwart.
Ein Ölgemälde mit dem Porträt des Dichters Theodor Storm hängt am 26.06.2013 in Husum (Schleswig-Holstein) im Theodor-Storm-Haus
Ein Ölgemälde mit dem Porträt des Dichters Theodor Storm© dpa
Und dann sagt er, vor meiner inneren Bühne lasse ich jetzt die Lebensgeschichte der zweiten Frau von Storm ablaufen, Dorothea. Und das ist dann geschrieben in einem sehr schönen, mädchenhaften Stil des 19. Jahrhunderts, wo man von der Gegenwart gar nichts merkt. Und dieses Hineinfühlen in so eine Dichteraura, das ist etwas, was stark auffällt in letzter Zeit. Also Theodor Storm als ein großer, ungezügelter, irrationaler Dichter, der die ganzen Spannungen seiner Zeit transportiert.
Es gab den Rilke-Bestseller von Klaus Modick. Es gab einen Kafka-Roman von Michael Kumpfmüller, es gab einen Hermann-Hesse-Roman, der mir sehr gefallen hat, von Thomas Lang.
Aber der Dichter als Größe, der irgendwie noch eine Individualität hat und so eine richtige Spannung von Extremen, und der die Spannkraft der Gesellschaft aushält, das ist, glaube ich, ein Reflex darauf, auf die heutige Situation, dass die Literatur einen Bedeutungsverlust erlangt hat und man an die Größen der Vergangenheit, die wirklich auch noch Größe lebten scheinbar, dass das ein Anknüpfungspunkt ist, was Literatur eigentlich mal war.

Der Blick des Historienromans auf die Gegenwart

Meyer: Damit wir auch mal übers Positive reden – Sie haben ja schon gesagt, es sind nicht alle solche Bücher eine Flucht vor der Gegenwart. Was wäre denn ein Beispiel, dass man mit historischen Stoffen eben gerade übers Aktuelle, gerade interessant übers Aktuelle redet?
Böttiger: Es gab ja vor Kurzem den Bestseller von Thomas Hettche, "Pfaueninsel". Das ist, glaube ich, ein sehr interessantes Beispiel, auch stilistisch zu unterscheiden von so einem Roman wie dem von Jochen Missfeldt. Thomas Hettche schreibt im Stil der Gegenwart, und er verlegt seine Sphäre in das alte Preußen, das man auf der Pfaueninsel vor Berlin natürlich auch touristisch sehr gern aufsucht.
Der Autor Thomas Hettche liest aus seinem Buch "Die Pfaueninsel".
Der Autor Thomas Hettche liest aus seinem Buch "Die Pfaueninsel".© picture alliance / dpa / Susannah V. Vergau
Er lädt es aber auf mit heutigen Gender-Troubles, mit heutigen Perspektiven auf die Geschichte. Und diese Spannung eines historischen Stoffes, der Sehnsucht ausstrahlt, zu Gegenwartsdiskursen, also verschiedene Formen von Sexualität, von Exotik, von Außenseitertum, mit ganzen akademischen Diskursen, die heute virulent sind, das ist in diesem Roman, glaube ich, so das Rezept, warum der so viele Interessenten gefunden hat.
Ein anderes Beispiel ist auch Michael Roes, der diese Homosexualität von Friedrich, dem sogenannten Großen, und seinem Freund Katte – die natürlich immer übergangen wurde in der Geschichtswissenschaft, das wird so am Rande vielleicht ein bisschen verschwiemelt bemerkt –, das wird aufgeladen, dieser historische Stoff, mit heutigen Blickwinkeln. Das ist ein interessanter Zugang.
Und es gibt natürlich auch die Romane von Uwe Timm. Der hat jetzt aktuell den Roman "Ikarien", wo es um ein Projekt geht, so 19. Jahrhundert, dann Übergang ins 20. Jahrhundert. Eugenik – seine Hauptfigur hat das Wort "Rassenhygiene" erfunden, diese Hauptfigur ist real. Und da merkt man, dass heutige Debatten, heutige politische Probleme in der Vergangenheit gespiegelt werden können und ein interessantes Licht auf das werfen, wo wir jetzt gerade drin stecken.
Also gerade diese Kontinuität eines deutschen, reinen, idealen Denkens, das ist im Moment besonders aktuell. Und da kann der Rückgriff auf historische Stoffe natürlich etwas bewirken.
Meyer: Viele Leser wird jetzt interessieren, wie der Fall bei Daniel Kehlmann liegt. Viele Leser auch, weil sein erster großer Erfolg, "Die Vermessung der Welt", war ja auch schon eine Art historischer Roman, eben über Alexander von Humboldt und den Mathematiker Karl-Friedrich Gauß. Jetzt sein neues Buch über Till Eulenspiegel – wie ist das, kopiert er sich da sozusagen selbst?

Bildung als Gegenwartsthema

Böttiger: Ja, diese Vermessung der Welt war tatsächlich in irgendeiner Form fast genial, weil er hat vor ein paar Jahren damit reagiert auf so heutige Bildungsdebatten. Dass es darum geht, Bildung – auf jedem Wahlplakat steht Bildung, aber man weiß eigentlich gar nicht genau, was damit gemeint ist.
Naturforscher Alexander von Humboldt (l)  und der Botaniker Aimé Bonpland
Naturforscher Alexander von Humboldt (l) mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland während einer Expedition in Südamerika.© imago/United Archives
Daniel Kehlmann hat dieses Bedürfnis nach Bildung in ein Konversationsstück aus dem 18. Jahrhundert übersetzt, wo man in der Vergangenheit tatsächlich etwas aufsucht, was wir heute auch gern hätten: Bürgerliche Salongespräche, wo man über wichtige ästhetische, humane, politische Themen verhandelt. Die Zeit ist zwar längst vorbei, aber es gab einmal die Situation, dass die Ehefrau eines Industriellen oder Ingenieurs für Kunstgeschichte und für Kultur zuständig ist, und deswegen bei den Salons diese Themen lanciert. Da hat Daniel Kehlmann tatsächlich reflektiert, dass dieses Bedürfnis heute wieder sehr stark vorhanden ist, und hat damit einen großen Bestseller gelandet, der damit zu erklären ist.

Form des Schelmenromans kein Zufall

Und "Till Eulenspiegel" setzt im Grunde da noch eins drauf, weil es eine verschmitzte autobiografische Grundlage gibt. Da ist der Till Eulenspiegel, der schelmenhaft, gauklerhaft dann sich in der Gegenwart bewegt und diese Strukturen benennt und auch als Schriftsteller – seine eigene Schriftstellerexistenz wird in dieser Gauklerhaftigkeit fast selbstironisch dargestellt. Das ist nicht uninteressant, aber man müsste auch über die Sprache reden.
Meyer: Und dass er da so eine Form des Schelmenromans nutzt wie ja übrigens auch ein anderer wichtiger Autor, Ingo Schulze, mit seinem neuen Buch, das in der DDR spielt – kann man vielleicht auch sagen, fast schon ein historischer Stoff – aber dass man diese alte Form nutzt, Schelmenroman, ist das dann auch schon wieder eine Art Botschaft?
Böttiger: Schelmenroman ist ja eine große historische Gattung. Cervantes, Don Quijote ist der große Anknüpfungspunkt der frühen Neuzeit. Oder Grimmelshausen in Deutschland im Dreißigjährigen Krieg, Barockzeit. Darauf reflektiert Kehlmann natürlich. Eulenspiegel, Zeit des Dreißigjährigen Kriegs.
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Der Schriftsteller Daniel Kehlmann © picture alliance / dpa / Horst Galuschka
Der Schelmenroman ist eine Reaktion auf die Krise einer Gesellschaft, wenn bestimmte Wertvorstellungen zusammenbrechen und eine chaotische Leerstelle aufscheint in der gesellschaftlichen Selbstwahrnehmung. Und das ist natürlich sehr schön, wenn man heute die Zerrissenheit der Gesellschaft, das Unübersichtliche, das Bedrohliche sieht, dass man nichts mehr fassen kann in einem Raum, mit einem Zugriff.
Der Schelm bei Daniel Kehlmann und noch mehr bei Ingo Schulze ist ein Reflex darauf. Der Schelm hat eine sehr begrenzte Weltsicht. Man blickt nur in seinen Kopf, und die ganzen Zerwürfnisse der Gesellschaft, die Widersprüche, werden vom Schelm ausgeblendet, er bewegt sich da traumtänzerisch durch. Das ist auch ein Reflex darauf, dass die Gegenwart unübersichtlich wird, nicht nur die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs.
Meyer: Auf die Gegenwart schauen mit historischen Stoffen. Darüber haben wir mit Helmut Böttiger gesprochen. Ganz herzlichen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

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