Michael Ignatieff: „Über den Trost in dunklen Zeiten“

Ideengeschichte des Trosts

05:30 Minuten
Cover des Buchs "Über den Trost in dunklen Zeiten" von Michael Ignatieff. Das Cover zeigt einen gemalten Horizont, einen blauen Nachthimmel mit einem gelben Vollmond, der sich im Wasser spiegelt. Buchtitel und Name des Autors stehen darauf in weißer und gelber Schrift.
© Ullstein

Michael Ignatieff

Stephan Gebauer

Über den Trost in dunklen ZeitenUllstein, Berlin 2021

352 Seiten

24,00 Euro

Von Susanne Billig · 31.12.2021
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Der Umgang mit dem Seelenschmerz anderer ist nicht einfach: Trauernde Menschen wollen gesehen werden und doch irgendwann Linderung finden. Zum Glück ist die abendländische Tradition reich an Trost-Optionen, wie der Autor Michael Ignatieff zeigt.
Die „kleine Tullia“, wie er sie in seinen Briefen nannte, war seit ihrer Geburt Ciceros Augenstern. Auf der politischen Bühne hielt er scharfzüngige Reden, von seiner Ehefrau hatte er sich längst entfremdet – doch bei seiner Tochter fand er Nähe und Vertrautheit. Als Tullia bei der Geburt ihres ersten Kindes starb, stürzte der römische Politiker in Verzweiflung.
„Über den Trost in dunklen Zeiten“ hat der vielseitige kanadische Autor, Filmemacher, Wissenschaftler und Politiker Michael Ignatieff sein neues Buch genannt. Billige Trostformeln interessieren ihn darin ebenso wenig wie die 17 Menschen, deren Nöte er beschreibt, darunter Hiob, Paulus, Cicero, Marc Aurel, Michel de Montaigne, Karl Marx und Václav Havel. Stattdessen begibt sich der Autor auf ideengeschichtliche Tiefenbohrungen.

Der Schmerz weißer Männer

Allerdings sei eine Kritik an den Anfang gestellt: Michael Ignatieff schafft es trotz aller aktuellen Debatten tatsächlich, ein Buch fast ausschließlich über den Schmerz weißer Männer zu schreiben. Neben ein paar weiblichen Randfiguren erhält nur eine einzige Frau ein Kapitel für sich: die britische Krankenschwester Cicely Saunders, Begründerin der Hospizbewegung.
Die russische Dichterin Anna Achmatowa ist in einem Kapitel mit zwei weiteren Opfern diktatorischer Schreckensherrschaften untergebracht und nicht-weiße Menschen oder solche aus Kulturen jenseits des Westens finden sich überhaupt nicht. Untröstlich steht die ideengeschichtlich vielseitig interessierte Leserin vor diesem Mangel an Bereitschaft, auch nur über den allernächsten Tellerrand zu schauen.
Was Ignatieff allerdings schreibt, liest sich nicht nur umfassend gebildet, sondern auch stilistisch in einen angenehm ungezwungenen Ernst gefasst, was dieses Trostbuch nie ins Sentimentale entgleiten lässt. Wenn Michael Ignatieff mit Hiobs Aufbegehren gegen Gott mitfiebert, sich tief in Max Webers Qualen an einer langwierigen Arbeitsblockade vergräbt oder Václav Havels Zweifel an der eigenen moralischen Integrität nachvollzieht – dann dokumentiert er nicht nur eine sympathische weltanschauliche Weite, sondern baut auch Fallhöhen auf, die die Sehnsucht nach Ausweg und Trost umso prägnanter in den Fokus rücken.

Von Verdrängung bis Hedonismus

Aber Trost gelingt nicht immer und er gelingt nicht leicht, arbeitet Michael Ignatieff heraus: Manchmal greifen seine Protagonisten zur platten Verdrängung. Manchmal ziehen sie sich auf einen Stoizismus zurück, den sie in den sensiblen Phasen ihres Schmerzes zu überwinden gehofft hatten. Manchmal ist Beruhigung nur im wiederholten Aussprechen beunruhigender Wahrheiten in der Poesie oder Politik zu finden – jenseits aller Utopien, mitten hinein in den Schmerz.
Und hin und wieder wendet sich ein David Hume oder ein Michel de Montaigne von konventionellen ideengeschichtlichen Ambitionen ab – dem eigenen Leben und einem schlichten Hedonismus zu. Ein Blick aus dem Fenster, Lustigsein mit Freunden, eine gute Mahlzeit verspeisen und verdauen. Auch das zeigt Michael Ignatieff in seinem Buch überzeugend: Über die Jahrzehnte hinweg kann gerade aus dem Verzicht auf hochtrabende Ansprüche ein resilientes, gelingendes Leben werden.

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