Liquidatoren

Die vergessenen Helfer von Tschernobyl

Liquidatoren vor dem Atomkraftwerk Tschernobyl nach dem Super-GAU.
Liquidatoren vor dem Atomkraftwerk Tschernobyl nach dem Super-GAU. © imago/Eastnews /Russia
Von Florian Kellermann |
In den ersten Tagen nach der Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl kamen sogenannte Liquidatoren zum Einsatz. Manche wussten nichts von den Gefahren, denen sie ausgesetzt waren. Heute sind sie krank, erhalten aber kaum staatliche Unterstützung.
Alexander Remisow kann seine Beine zwar bewegen, aber trotzdem nicht aufstehen. Sie sind zu schwach und er kann sie nicht richtig koordinieren. Auf Knien rutscht Alexander über den Boden der kleinen Ein-Zimmer-Wohnung, dabei müsste das gar nicht sein:
"Ich habe ihm ein Medikament zu trinken gegeben, das ihm geholfen hat. 'Wlada' hat er eines Tages geschrien, vor Freude, ist alleine aufgestanden und ohne Krücken durchs Zimmer gelaufen. Aber dann ist das Medikament plötzlich doppelt so teuer geworden und dann dreimal so teuer. Wir können es uns nicht mehr leisten."
Für den Kranken spricht meistens seine Frau Wladimira, denn seine Stimme ist schwach, er flüstert nur. Der 51-Jährige hat einen Hirnschaden, der sich über Jahre verschlimmert habe - welche Bereiche betroffen sind, weiß er selbst nicht genau. Die Ärzte erklärten, es sei eine psycho-organische Störung. Ursache - unklar.

Kollegen von damals leben nicht mehr

Dabei hat er selbst keinen Zweifel: Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl habe seine Gesundheit zerstört:
"Mit Hubschraubern wurde damals Blei direkt in den brennenden Reaktor geworfen. Wir waren Lkw-Fahrer und haben das Blei in Containern angeliefert. Am 27. April war ich zum ersten Mal dort. Meine Kollegen von damals sind alle tot, soweit ich weiß, nach und nach sind sie gestorben."
Zwei Wochen lang lieferte der damals gerade 21-Jährige das Blei an. Er hätte sich weigern können, gibt er zu, aber:
"Wir wussten doch von nichts. Das war ein Samstag, als mich mein Chef angerufen hat, ob ich mitmache. Vor dem Losfahren haben sie uns allen Wodka ausgeschenkt. Gegen die Strahlung, aber doch gegen die normale Strahlung, hat es geheißen. Von einem Unfall war keine Rede."

Kommunistische Parteiführung deckelt

Wladimira füttert in der Küche die vier Katzen des Ehepaars. Sie wirft einen skeptischen Blick über die Schulter. Ja, am Anfang wusste keiner Bescheid, erzählt sie, aber nach ein paar Tagen verbreitete sich die Nachricht in Kiew. Die Stadt habe sich geleert, die Züge auf die Krim seien voll gewesen, erzählt sie.
"Über den russischen Dienst der BBC haben wir es erfahren. Deshalb ist keiner freiwillig zu den Feiern am 1. Mai gegangen. Die Kommunisten taten ja noch so, als sei nichts passiert. Sie haben mit Entlassung gedroht, damit die Leute ins Stadtzentrum kamen. So war es bei meiner Mutter, die für einen Rüstungsbetrieb gearbeitet hat. Nicht mal als Putzfrau würde sie mehr eine Arbeit finden, hieß es."
Auch die Menschen aus Prypjat, der Stadt der Kraftwerksarbeiter, die am Tag nach der Katastrophe evakuiert wurden, brachten Gerüchte mit. Warum ihr Saschka, wie sie ihren Mann liebevoll nennt, trotzdem weiter das Blei nach Tschernobyl brachte? Er habe die Gefahr wohl einfach nicht sehen wollen, sagt Wladimira. Und irgendjemand musste die Arbeit ja tun.

Sonderzulage wird "Grabgeld" genannt

Menschen wie Alexander Remisow werden in der Ukraine "Liquidatoren" genannt - Beseitiger. Vor allem diejenigen, die in den ersten Tagen nach der Katastrophe im Einsatz waren, sollten eigentlich Heldenstatus genießen, meinen Opferverbände. Denn sie verhinderten, dass noch mehr hoch radioaktiver Staub in die Atmosphäre gelang.
Heldenstatus? Wladimira findet das - amüsant:
"Zu Alexander sagen die Amtsärzte: Seine Krankheit habe nichts mit Tschernobyl zu tun. Weil der Staat ihm sonst eine Entschädigung zahlen müsste. Eigentlich müsste er umgerechnet etwa 200 Euro Rente bekommen. Tatsächlich bekommt er gerade mal 70 Euro, die normale Invalidenrente. Und von der Sonderzulage für Liquidatoren ist fast nichts mehr geblieben. Brotgeld nennen sie die paar Hrywnja offiziell, wir nennen sie Grabgeld."
Nach und nach hat die Ukraine die Sozialleistungen für Liquidatoren, die ihnen noch in der Sowjetunion zugestanden wurden, gekürzt und abgeschafft. Vor dem 30 Jahrestag der Katastrophe verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz: Die "Tschernobyltsy", wie sie auch genannt werden, sollten zumindest keine Steuern mehr auf ihre Renten zahlen. Zu teuer für den Staat, meinte Präsident Poroschenko, legte ein Veto ein und brachte das Gesetz zu Fall.
"Die Ukrainer haben die Liquidatoren einfach vergessen. Wahrscheinlich, weil sie auch Tschernobyl am liebsten vergessen wollen."
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