Tschernobyl

Tagelang in unendlicher Ungewissheit

An der Einfahrt zur 30-Kilometer-Sperrzone steht inzwischen eine Mutter Gottes
An der Einfahrt zur 30-Kilometer-Sperrzone steht inzwischen eine Mutter Gottes © Dagmar Röhrlich
Von Philip Artelt · 26.04.2016
Am Anfang war es nur ein Ausschlag auf den Geigerzählern, niemand wusste, was passiert war, rund 2000 Kilometer östlich von Deutschland. Es dauerte Tage, bis die Katastrophe einen Namen bekam: Tschernobyl.
Horst May: "Ja, also der 26ste war ja ein Samstag, am Sonntag war noch gar nichts bekannt, und am 28sten gab es gegen Nachmittag eine Pressemeldung, die sehr kurz war und nur besagte…"
Nachrichtensprecher: "In Teilen Schwedens, Finnlands und Norwegens ist eine ungewöhnlich hohe radioaktive Strahlung gemessen worden."
May: "Mein Name ist Horst May, ich bin hier bei der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit. Das war so die erste Information, die ich dann auch weitergegeben habe an Kollegen, und die konnten aber sich so auch erstmal keinen Reim drauf machen."
Nachrichtensprecher: "Als Ursache wird ein Defekt an einem sowjetischen Atomreaktor vermutet. Ein sowjetischer Atombombenversuch wird als Grund für die überhöhte Radioaktivität ausgeschlossen. Die Atomenergiebehörde in Moskau teilte der schwedischen Botschaft mit, sie wisse nichts von einem möglichen Zwischenfall in einem Kernkraftwerk…"
May: "Und am Abend gab es dann die erste Meldung, dass da was passiert wäre, aber man wusste noch nicht allzu viel…"
Nachrichtensprecher: "Die Sowjetunion hat zugegeben, dass es in einem Atomkraftwerk in der Ukraine zu einem Unglücksfall gekommen ist. Die amtliche Nachrichtenagentur TASS berichtete, bei dem Unglücksfall in der Nähe der ukrainischen Stadt Kiew…"
Korrespondent (Telefon): "...darüberhinaus sendet TASS gerade zu dieser Stunde Hintergrundmaterial zu dem Unglück und da fasst man sich natürlich an den Kopf, was wird gesendet? Es wird ausführliches Hintergrundmaterial über verschiedene Atomkraftwerkunglücke in den Vereinigten Staaten gesendet."
Nachrichtensprecher: "...seien auch Menschen zu Schaden gekommen."

29. April 1986

Helmut Zeising: "Mein Name ist Helmut Zeising, zur Zeit von Tschernobyl war ich Referatsleiter und Laborleiter im Landesamt für Umweltschutz, am 29. April, in der Früh, wie ich also zur Arbeit gefahren bin, hab ich in den Nachrichten gehört…"
Korrespondent (Telefon): "...dass sich in Tschernobyl ein sehr schwerer Unfall ereignet hat. Sofortige Todesopfer könne es aber nur gegeben haben, wenn sich Personal…"
Zeising: "Und kaum war ich im Amt, kam ja auch schon der Auftrag dann, eine Wasserprobe gleich vor der Haustür oder vor der Amtstür eben zu nehmen und auszumessen, ob eben schon radioaktive Spaltprodukte zu messen sind."
Moderator: "Herr Münch, letzte Frage: Bundesforschungsminister Riesenhuber rechnet nicht damit, dass die in der Sowjetunion freigesetzte Radioaktivität auf die Bundesrepublik zutreibt, ist das auch Ihre Überzeugung?"
Münch (Telefon): "Ja, also ich bin auch der Meinung, dass einmal aus Gründen der Entfernung nach Kiew, aber auch der Windrichtung, die ja in erster Linie in die andere Richtung weht, wir…"
Zeising: "Und ich konnte also schon diese flüchtigen Spaltprodukte nachweisen."
Moderator: "Herr Grotzky, was weiß man inzwischen in der sowjetischen Hauptstadt über das Ausmaß des Reaktorunfalls?"
Korrespondent (Telefon): "Was ich jetzt sage, wird die Hörer wahrscheinlich ziemlich erstaunen, Sowjetbürger, die ich bislang habe sprechen können, stehen fassungslos vor einer solchen Nachricht, die ich ihnen sage, sie wissen noch nichts davon, es hat sich auch noch nicht rumgesprochen…"
Moderator: "Herr Ring, gibt es aus den skandinavischen Ländern zusätzliche Informationen, zusätzlich zu dem Bericht meines Moskauer Kollegen?"
Korrespondent (Telefon): "Skandinavische Strahlenschutzexperten und Atomphysiker sind der Meinung, das Unglück habe sich schon am Freitag oder Sonnabend ereignet, sie haben zusammen mit meteorologischen Beobachtungsstationen Windrichtungen, Niederschlag et cetera errechnet, ..."
Nachrichtensprecherin: "In der Nacht zum gestrigen Montag ist der Anstieg der Radioaktivität in der Luft über Finnland noch viel stärker geworden. Dies sei jedoch zunächst wegen eines Streiks der öffentlichen Bediensteten in Finnland nicht registriert worden."
Sprecher: "In Schweden wird auch interne Kritik an der verspäteten Unterrichtung der Bevölkerung geübt. Es stellte sich heraus, dass die Messgeräte im ganzen Lande nur einmal wöchentlich abgelesen werden."
Sprecher: "Wir verzichten auf den Korrespondentenplatz Moskau, denn überall in der Welt – fast, kann man sagen – erfährt man über diesen Reaktorunfall mehr als gerade in Moskau."
Sprecher: "Für die schwedische Kernkraftinspektion steht fest, dass es in dem sowjetischen Atomkraftwerk von Tschernobyl zu einer Kernschmelze ganz oder teilweise gekommen ist."
May: "Zu dem Zeitpunkt an dem 29. gab es kein Bild der Anlage. Wir hatten ein Buch hier in der GRS, in dem alle Anlagen weltweit erfasst waren. Und in diesem Buch gab es ein sehr kleines Foto, erinnere ich mich, von der Anlage Tschernobyl. Und dann rief auch ein Journalist an, ob wir ein Foto von Tschernobyl hätten. Naja, und dann hat er wohl dieses Foto abfotografiert und hat das wohl auch ziemlich weit verbreiten können später."
Moderatorin: "Was heißt das eigentlich, Harro Zimmer, wenn da eine Wolke, die radioaktiv geladen oder beladen ist, über den Globus zieht?"
Zimmer: "Lassen Sie mich ruhig die Gefahr etwas herunterspielen, das ist so furchtbar viel nicht, da wurde früher bei jedem Kernwaffenversuch sehr viel mehr Radioaktivität in die Atmosphäre geblasen…"
Experte: "Diese hochradioaktiven Schadstoffe entsprechen denjenigen, die größenordnungsmäßig bei der Explosion von etwa 1000 Hiroshima-Bomben entstehen würde."
Sprecher: "Wenn der Wind aus Osten weht, trifft es auch den Westen…"
Korrespondent (Telefon): "Nein, wir wissen natürlich auch nicht zu beantworten, ob es sich um den großen GAU gehandelt hat, alle Anzeichen allerdings sprechen eher dagegen."
Experte: "In unserem Sprachgebrauch ist dies ein Super-GAU. Das heißt ein Unfall, der den sogenannten größten anzunehmenden Unfall übertrifft."
Moderator: "Guten Abend, meine Damen und Herren. Das ist mit Sicherheit das Schlimmste, was je passiert ist. Dies ist ein Zitat eines Experten zum Thema des Tages, das nur unzureichend umschreibt, was nun wirklich geschehen ist, in Tschernobyl in der Ukraine."
Ansager: "Nach der sowjetischen Atomkatastrophe: Europa sorgt sich um die Folgen. Sowjets bitten in Bonn um Hilfe: der Bundeskanzler sagt Unterstützung zu. Die Bombe von Zelle: Eine Information des Kanzleramtes lässt sich nicht beweisen."
Moderator: "Und das Wetter morgen:"
Ansager: "Im Westen und Südwesten gelegentlich Regen, im Süden Schauer oder Gewitter, sonst heiter bis wolkig."
Dieter Sommerer: "Ich bin Dieter Sommerer, Landwirt aus Spardorf, damals war ich 21 Jahre alt, wie der Unfall oder der Super-GAU passierte."
Anna Sommerer: "Ich bin die Oma, Anna Sommerer, und bin 1938 geboren."
Johanna Sommerer: "Ich bin die Johanna Sommerer, ich bin seit 1989 hier im Hof eingeheiratet…"
Anna Sommerer: "Im Radio haben wir's halt erfahren, ne? Ich meine Fernsehen haben wir gar noch nicht gehabt."
Dieter Sommerer: "Doch, haben wir schon gehabt."
Anna Sommerer: "Ja, ihr."
Dieter Sommerer: "Ja. Damals ist ja nichts gekommen, die Sowjet… damals war es ja noch die Sowjetunion, die hat ja nichts zugegeben. Und, ja, es war halt irgendwie, man war dann total verunsichert, man riecht nichts, man schmeckt nichts…"
Moderator: "Was sollte der Bürger morgen und übermorgen vielleicht tun, um ganz sicher zu gehen?"
Experte: "Also was ich für notwendig halte, ist, dass wir die Aktivität in Nahrungsmitteln, insbesondere in der Milch, verfolgen."
Zeising: "Wir haben jedem Bürger, der bei uns angerufen hat, kostenlose Messung versprochen. Ja. Ja freilich ist das ausgeartet. Also unser Labor war voll mit Milch und Joghurt, die Gänge draußen waren alle voll, wenn wir wollen hätten, wären wir jeden Tag satt geworden."
Johanna Sommerer: "Also, mir hat heute früh jemand erzählt, dass in einer Nachbarortschaft die Leute mit dem Geigenzähler (sic!) zum Metzger gegangen sind und gemessen haben, ob sie das Fleisch jetzt kaufen können oder nicht. (lachen) Aber es waren nicht die einfacheren Leute, es waren mehr die, die bei Siemens gearbeitet haben."
Anna Sommerer: "Wir haben ja einen eigenen Garten gehabt. Da haben wir ja alles selber gehabt."
Johanna Sommerer: "Ich denke, man hat das damals, soweit ich das in Erinnerung habe, man hat das alles gegessen. Weil man hat es ja nicht weggeworfen."
Dieter Sommerer: "Ich kann mich nur noch erinnern dran, das war ein Kartoffelhändler aus Fürth, und der hat dann angerufen, ob wir noch Kartoffeln haben, und die waren eigentlich, das war ja schon Anfang Mai, die waren dann ziemlich ausgekeimt, also waren dann auch schon welk, vom Jahr zuvor, also von 85, vom Herbst. Und die hat er dann gekauft, zu einem wirklich super Preis, das haben wir noch nie gekriegt, also da haben wir profitiert vielleicht sogar."
Moderator: "Wir haben aus Dänemark gehört, dass die Bevölkerung dort nach den ersten Meldungen über erhöhte Radioaktivität die Apotheken gestürmt hat und versucht hat, Jodtabletten zu kaufen. Hat dies überhaupt Sinn?"
Wolfgang Breyer: "Ich bin Wolfgang Breyer, ich habe an der TU Berlin Elektrotechnik studiert, seit 1985 war ich in Erlangen tätig bei der Siemens-Tochter Kraftwerk Union, die Kraftwerke aller Art, unter anderem auch Kernkraftwerke, baute. Also was uns am meisten betroffen gemacht hat, war die Diskussion über die erforderlichen Strahlenschutzmaßnahmen in Deutschland."
Moderator: "Weil wir auch nen kleinen Dissens da haben, wir haben also auch…"
Gesprächsgast: "Nee, wir haben keinen, sondern nur…"
Moderator: "...oder eine Verstärkung durch Sie, mir haben also auch Wissenschaftler gesagt, man sollte zum Beispiel jetzt nach dem Regen nicht unbedingt durchs Gras laufen, und wenn man es tut, sollte man die Schuhe vielleicht nicht gerade in der Wohnung abstellen. Ist das nun Unfug oder nicht?"
Experte: "Also die hierdurch eintretende Reduktion der Strahlenbelastung ist völlig vernachlässigbar."
Gesprächsgast: "Ja."
Breyer: "Und da haben wir ein grundsätzliches Problem der Industriegesellschaft festgestellt, nämlich der Mangel an quantitativem Denken. Paracelsus lehrte ja schon: Nichts ist Gift, alles ist Gift, die Dosis macht das Gift. Aber die Bevölkerung glaubte mehr an den Satz: Jedes Becquerel ist ein Becquerel zuviel."
Innenminister Zimmermann: "Wir sind 2000 Kilometer von dieser Unfallstelle entfernt, eine Gefährdung der deutschen Bevölkerung ist ausgeschlossen."

30. April 1986

Wolfgang Dollrieß: "Mein Name ist Wolfgang Dollrieß, ich arbeite seit 1979 beim Forschungsreaktor München… Das ist hier mein altes Tagebuch von 1986. (blättert) Kam am 30. April mit dem Roller, hier steht drin: 'Mit Roller. Erhöhte Radioaktivität ab 7.30 Uhr. Russland.' Das habe ich an dem Tag reingeschrieben!"
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Wolfgang Dollrieß - sein Tagebuch von 1986. © Deutschlandradio - Philip Artelt
Moderator: "Herr Dr. Vogel, von den Meßstationen in Hof wurden nun erhöhte Werte an Radioaktivität und an Jod gemeldet. Wie hoch sind diese Werte und wie konkret ist die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung?"
Dollrieß: "Ich bin mit dem Roller in die Dienststelle gefahren und zu dem Zeitpunkt hat es geregnet. Und erfuhr an der Pforte, dass wir erhöhte Messwerte haben an unseren Außenmeßstellen, ich dachte mir, das schaust du dir mal an und gehst einmal in deinen Ganzkörpermonitor, das ist ein Gerät, in das man komplett einsteigt. Ja, von Körpermitte an nach oben war ich wirklich stark kontaminiert und das habe ich auf den Regen zurückgeführt."
Reporter: "Zwar hatten Luftproben am Morgen aus Hof, Passau und anderen Gegenden des Freistaates eine Verdoppelung, ja sogar Verdreifachung des Gammadosisgehaltes, sprich: der Radioaktivität, gemeldet, doch dies sei allenfalls der "Wert, den es in den 50er- und 60er-Jahren zur Zeit der Atomtests gab.
Dollrieß: "War ich ein bisschen vorwitzig und habe gesagt, das kommt bestimmt von Tschernobyl. Und dann sagt mein Chef zu mir: Also jetzt halten Sie sich mal zurück, reden Sie nicht so einen Unsinn. Das kann gar nicht sein, in der Zeit und überhaupt."
Moderator: "Meine Damen und Herren, wir wollen jetzt versuchen, mit dem Wetteramt in Offenbach zu telefonieren, um den allerneuesten Stand über Windrichtung, Wetterprognosen für die nächsten Tage zu erfahren, denn damit hängt eben zusammen, ob noch viel oder wenig an Strahlenbelastung auf uns zukommt."
Off-Stimme: "Franz, in Offenbach sind beide Nummern ständig belegt. Aber wir versuchen es weiter."
Moderator: "Sie sehen, meine Damen und Herren, es wollen anscheinend viele Leute diese Auskunft haben, wir versuchen es im Lauf der Sendung weiter…"
Moderator: "...gesagt, dass er eine ähnliche Katastrophe wie die in der Sowjetunion auch für im Westen sehr wohl möglich halte. Was sagen Sie zu dieser Formulierung?"
Experte (Telefon): "Die Experten auf dem Gebiet der Reaktorsicherheit halten das für ausgeschlossen…"
Experte: "Ich will ganz offen sagen: Ich halte es für eine Illusion, aufgrund solcher singulären Ereignisse zu sagen, wir steigen nun endgültig aus der Kernenergiegesellschaft aus…"
Philosoph: "Heute sind wir mittlerweile so weit, eindeutig sagen zu können, die Sonnenenergie und die Energieeinsparung sind der bessere Weg…"
Moderator: "Hallo? (Knacksen) Hallo?"
Gesprächspartner (Telefon): "Münchner, Deutscher Wetterdienst, guten Abend?"
Moderator: "Ja, hier ist Bayerisches Fernsehen in München, Stark, guten Abend."
Gesprächspartner: "Augenblick, ich gebe Ihnen den Meteorologen."
Moderator: "Danke sehr."
Mohr: "Schönen guten Tag, hier Mohr."
Moderator: "Ja, hier ist das Bayerische Fernsehen in München nochmal, wir hätten gerne den neuesten Stand für Wind und Wetter für die nächsten Tage."
Mohr: "Ich nehme an, Sie sind also primär interessiert an der Luftströmung, ja?"
Moderator: "Ja."
Mohr: "Die wird die nächsten Tage nordöstlich bleiben."
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