Tschernobyl

Reise in eine postapokalyptische Welt

Dreißig Jahr ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl nun her, und immer noch ist die Gegend um den, mit einem Beton-Sarkophag umgebenen Reaktorblock radioaktiv verseucht.
Dreißig Jahre ist die Atomkatastrophe von Tschernobyl nun her, und immer noch ist die Gegend um den mit einem Beton-Sarkophag umgebenen Reaktorblock radioaktiv verseucht. © picture alliance / Tass Tolochko
Der Fotograf Gerd Ludwig im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 26.04.2016
Das Reaktorunglück vom 26. April 1986 machte aus dem Gebiet um Tschernobyl verstrahltes Niemandsland. Seit 1993 hat Gerd Ludwig das Sperrgebiet neunmal besucht. Seine Fotos seien eine Mahnung an menschliche Hybris, sagt er.
Neun Mal ist der Fotograf Gerd Ludwig zwischen 1993 und 2014 mit seiner Kamera in die verstrahlte Zone um Tschernobyl gereist: Reisen in eine "postapokalytische Welt", in der die Katastrophe auch heute noch deutlich sichtbar sei und in der es keine Normalität gebe.
"Es gibt Wissenschaftler in der Zone, die mir erzählt haben, dass man um ganz bestimmte Gebiete innerhalb der Zone einen Zaun ziehen müsste, auf denen stehen sollte: Nicht geeignet für menschliche Besiedlung für die nächsten 24.000 Jahre."

Dokumente des hastigen Aufbruchs

Ludwigs Bilder aus der Geistertadt Pripjat bei Tschernobyl spiegeln den hastigen Aufbruch der Bewohner wider, nachdem die Behörden sich dazu entschlossen hatten, die Stadt zu evakuieren.
"Das waren Innenräume von Wohnungen und Schulen und Kindergärten, in denen das Leben ganz abrupt zu Ende gegangen war. Denn der Bevölkerung hat man damals ja gesagt: Packt nur das Nötigste ein, ihr werdet in kurzer Zeit wieder zurückkommen."
Er sei niemand, der mit einem Anti-Atomkraft-Button herumlaufe, sagte Fotograf.
"Aber ich verstehe meine Fotos als eine Mahnung an menschliche Hybris, dass nicht alles, was technologisch machbar ist, auch sinnvoll und weise ist."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Von Michail Gorbatschow stammt der Satz, dass die Atomkatastrophe von Tschernobyl heute vor 30 Jahren wahrscheinlich mehr zum Untergang der Sowjetunion beigetragen hat als seine ganze Perestroika.
Es war ein Experiment mit fatalen Folgen, als man im Atomkraftwerk von Tschernobyl am 26. April 1986 einen Test machte und daraus die größte Atomkatastrophe in der zivilen Nutzung der Atomkraft wurde. Ein Gebiet, so groß wie das Saarland, atomar verseucht, Zehntausende mussten flüchten, wurden umgesiedelt, starben und sterben bis heute an der Strahlenkrankheit. Das sind die Zahlen.
Die Schicksale dahinter und die Bilder kennt der Fotograf Gerd Ludwig. Neunmal seit 1993 ist er in die verstrahlte Zone um den Reaktor von Tschernobyl gereist, um Bilder zu machen. Er lebt in den USA und ist jetzt aus Los Angelos am Telefon zugeschaltet. Schönen guten Tag!
Gerd Ludwig: Guten Morgen nach Deutschland!

Die Katastrophe ist auch heute noch sichtbar

von Billerbeck: "Der lange Schatten von Tschernobyl" heißt der Bildband, der im Zuge Ihrer Reisten ins Sperrgebiet rund um den Katastrophenreaktor entstand. Wie weit reicht dieser Schatten, wie präsent ist Ihnen diese Katastrophe?
Ludwig: Diese Katastrophe ist auch heute noch sehr deutlich nicht nur in der Sperrzone, sondern auch in den umliegenden Gebieten sichtbar. Es sind vor allem die vielen Opfer, die über die gesamte Sowjetunion verstreut sind. Denn es waren insgesamt 800.000 Liquidatoren an den Aufräumarbeiten in der Zone beteiligt und man weiß nicht, wie deren Gesundheitszustände heute aussehen. Darüber gibt es keine genaue Dokumentation.
von Billerbeck: Sie sind das erste Mal 1993 dorthin gereist. Wie erinnern Sie sich an diese erste Reise?
Ludwig: Es war wie eine Reise in eine postapokalyptische Welt. Die Innenräume der Stadt Pripjat, die nur ungefähr zwei Kilometer vom Reaktor selbst entfernt gelegen ist, war damals noch eine Widerspiegelung des hastigen Aufbruchs. Das waren Innenräume von Wohnungen und Schulen und Kindergärten, in denen das Leben ganz abrupt zu Ende gegangen war. Denn der Bevölkerung hat man damals ja gesagt: Packt nur das Nötigste ein, ihr werdet in kurzer Zeit wieder zurückkommen.

Ein großartiges Foto berührt die Seele und erweitert den Geist

von Billerbeck: Das heißt, Sie haben Bilder gemacht, als sei das Leben mitten in der Bewegung angehalten worden. Sind das Fotos, die also über eine Dokumentation hinausgehen, ganz bewusst?
Ludwig: Natürlich. Weil ich davon ausgehe, weil es meine Prämisse ist, dass ein großes Foto, ein großartiges Foto die Seele berührt und den Geist erweitert. Es sind bewusst auch ganz einfühlsame Fotos, nicht nur von diesen Innenräumen, sondern auch von den Opfern.
von Billerbeck: Die haben Sie oft besucht und porträtiert. Also nicht nur die Leere der Sperrzone, der verlassenen Gebiete, sondern auch die Menschen, die betroffen waren von der Katastrophe. Wie waren diese Begegnungen?
Ludwig: Es war gar nicht so einfach, an die Menschen zunächst mal heranzukommen. Vor allem die Opfer waren sehr schwer zu finden. Man muss ganz ehrlich sagen, dass nicht jedes Kind, das mit einer Missbildung nach Tschernobyl in der Gegend auf die Welt gekommen ist, wirklich diese Missbildung aufgrund der Katastrophe hat. Ich habe mich dann sehr bemüht, in denjenigen Waisenhäusern und Kindergärten zu fotografieren, die im Süden Weißrusslands liegen, wo der größte Teil des radioaktiven Niederschlags hinzog.
In Weißrussland habe ich dann diejenigen Kindergärten besucht, die Unterstützung von Hilfsorganisationen aus der ganzen Welt zum Thema Tschernobyl erhielten. Aber oft haben mir die Ärzte oder auch das Personal der Kindergärten gesagt: Oh, hier wirst du gar nichts finden, was irgendeine Beziehung zu Tschernobyl hat. Eines Morgens in einem Kindergarten tauchten zwei Offizielle auf, die dann sagten: Hier gibt es überhaupt niemanden, der mit Tschernobyl in Verbindung gebracht werden kann.

"Nicht geeignet für menschliche Besiedlung für die nächsten 24.000 Jahre"

von Billerbeck: Da wird man doch misstrauisch, wenn einem so was gesagt wird, oder?
Ludwig: Ja, natürlich. Dann habe ich aber einen schnellen, hellen Moment gehabt und habe gesagt: Wissen Sie, wenn Sie mir jetzt schriftlich geben, dass hier niemand in Verbindung zu Tschernobyl gebracht werden kann, dann packe ich meine Kamera sofort wieder ein und gehe los. Aber wir werden dann im "National Geographic" – für die Zeitung war ich unterwegs – dann auch berichten müssen, dass dieser Kindergarten keinen Anspruch mehr auf irgendwelche Hilfen aus Tschernobyl-Programmen erhebt. Und Sie hätten mal sehen sollen, wie schnell die dann ihre Meinung geändert haben.
von Billerbeck: 1993 waren Sie das erste Mal da, 2014 zum bisher letzten Mal. Kann man heute von Normalität sprechen?
Ludwig: Beileibe nicht. Es gibt Wissenschaftler in der Zone, die mir erzählt haben, dass man um ganz bestimmte Gebiete innerhalb der Zone, also beileibe nicht in allen Gebieten, aber um ganz bestimmte Gebiete einen Zaun ziehen müsste, auf dem stehen sollt: Nicht geeignet für menschliche Besiedlung für die nächsten 24.000 Jahre. Und das ist nur die Halbwertszeit von Plutonium 239. Der Grund dafür liegt darin, dass das Plutonium nicht so sehr in das Erdreich abgesunken ist, wie man erwartet hat.

"Bin keiner, der mit einem Anti-AKW-Button durch die Welt geht"

von Billerbeck: Sind Sie als Fotograf auch so eine Art Mahner gegen die Atomkraft insgesamt?
Ludwig: Ich bin nicht jemand, der mit einem Anti-Atomkraft-Button durch die Welt geht. Ich möchte, dass meine Bilder von den Menschen betrachtet werden und sie sich dann ihr eigenes Urteil bilden. Aber ich verstehe meine Fotos als eine Mahnung an menschliche Hybris, dass nicht alles, was technologisch machbar ist, auch sinnvoll und weise ist.
von Billerbeck: Gerd Ludwig war das, der Fotograf, über Tschernobyl und die Folgen der Atomkatastrophe von 1986 für die Menschen und für die Menschheit. Danke Ihnen, Herr Ludwig!
Ludwig: Ich danke Ihnen!
von Billerbeck: Sein Bildband heißt "Der lange Schatten von Tschernobyl" und es gibt auch eine App fürs iPad mit zusätzlichen Filmsequenzen von diesen Reisen von Gerd Ludwig in dieses Gebiet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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