Kommentar zur Willensbildung in der Politik

Last und Lust des Paternalismus

27. Mai 2018, der italienische Präsident Sergio Mattarella auf einer Pressekonferenz nach eine Treffen mit dem designierten Premierminister Giuseppe Conte. Conte gab darauf zunächst sein Vorhaben auf, eine Regierung zu bilden - Mattarella hatte einen Minister aus Contes Wunschkabinett zurückgewiesen.
Italiens Präsident Sergio Mattarella: Verfügung eines weisen, alten Mannes? © Alberto Lingria / imago stock&people
Von Andreas Urs Sommer · 03.06.2018
Politische Entscheidungen sind immer vorläufig, betont Andreas Urs Sommer. Das gilt für die Entscheidungen der weisen, alten Männer ebenso wie für diejenigen der Wähler. Jemand darf, kann und soll immer Widerspruch erheben. Gut so, findet Sommer.
Entweder ein anderes Kabinett oder eine technokratische Übergangsregierung – so verfügte Italiens Staatspräsident Mattarella diese Woche und machte damit Roms Austritt aus der EU in der kommenden Regierungszeit unwahrscheinlicher. In Brüssel plant man nun ein Verbot für eine Reihe Wegwerf-Plastik-Produkte und möchte damit einen wirksamen Schritt gegen die Meeresverschmutzung unternehmen. Kommt die Vernunft also von oben?
Ein hörbares Aufatmen ging durch die Reihen des sich aufgeklärt wähnenden, wohltemperiert bürgerlichen und linksliberalen Milieus. Endlich machte da in Rom mal jemand klar, dass es mit dem Geschrei der Scharfmacher und Spalter so nicht weitergehen könne. Endlich machte da in Brüssel jemand klar, dass es mit dem Raubbau an unseren natürlichen Ressourcen ein Ende haben müsse. Und sieht Präsident Sergio Mattarella nicht überhaupt aus wie die Verkörperung staatslenkender Weisheit, EU-Vizepräsident Timmermans immerhin wie ein Sparkassendirektor aus jener Zeit, als Sparkassen noch auf Treu und Redlichkeit eingeschworen waren? Stehen sie nicht für guten Paternalismus?

Weise, alte Männer mit dem Zepter in der Hand

Die Philosophie hegt bekanntlich seit jeher eine Schwäche für weise alte Männer. Die sollten nicht nur ihren Mitphilosophen sagen, was wahr, gut und schön ist. Sondern sie sollten möglichst auch das Zepter in die Hand nehmen und allen Menschen sagen, wo es lang geht.
Sokrates und Platon verdanken wir die Vorstellung von den Philosophenkönigen, die im idealen Staat herrschen und die politisch-soziale Welt zum Besten einrichten. Zwar erlitten schon Platons eigene Bemühungen, einen solchen idealen Staat zu verwirklichen, Schiffbruch. Aber die Schwäche der Philosophie für weise alte Männer ist geblieben und hat sich weitervererbt bis in jenes sich aufgeklärt wähnende, wohltemperiert bürgerliche und linksliberale Milieu.
Gegen Platon hält es nun jedoch entschieden demokratische Werte hoch, redet viel von Teilhabe, Inklusion oder zivilgesellschaftlichem Engagement. Und ist, wie seine philosophischen Ahnen, davon überzeugt, über die richtige Einsicht zu verfügen – wie die Welt zu deuten und was in ihr zu tun sei.

Das Richtige, das von der Vernunft gebotene?

Entsprechend viel Sympathie schlägt von dieser Seite den beiden präsidialen Entscheidern entgegen. Haben sie denn nicht das Richtige, das von der Vernunft Gebotene getan?
Nehmen wir einmal an, das sei so. Doch bleibt ein klitzekleines Problem: Nämlich der Umstand, dass man die demokratische Legitimation, die man sonst für Entscheider und Entscheidungen unerbittlich verlangt, gerne vergisst, wenn die eigene Weltsicht siegt. Mit der Parteinahme für diejenigen, die Bescheid wissen, Bescheid geben und entscheiden auch jenseits demokratischer Willensfindungsprozesse, tritt eine gegenwartstypische Kippfigur auf: Den Rechten, Extremen wirft man Demokratiefeindlichkeit vor und liebäugelt selbst mit dem Autoritarismus, wenn er denn nur der Autorität der Vernunft gehorcht. Aber wer kann sich dieser Autorität sicher sein – ganz sicher sein, dass man auf der Seite der Vernunft steht?
Offensichtlich niemand, der nicht dogmatisch verbohrt ist. Es hilft nichts: Das politische Geschäft ist ein Feld vorläufiger Einsichten, ein Feld provisorischer Wahrheiten. Deshalb ist es klug, Entscheidungen nicht auf ewig festzuschreiben.

Auch Expertenentscheidungen müssen sich stellen

Sympathie für einen vernünftigen, guten Paternalismus in Ehren: Dennoch sind auch die Expertenentscheidungen nur vorläufig und werden sich dem Mehrheitswillen zu stellen haben: Denn die nächste Wahl kommt gewiss – katapultiert Italien vielleicht aus der EU, und bringt uns die Plastikverpackung womöglich zurück.
Und Sympathie für eine radikale Demokratie ebenso in Ehren: Dennoch werden sich die gleichfalls vorläufigen Mehrheitsentscheidungen das Gegensteuern seitens der Experten, Präsidenten und Richter gefallen lassen müssen. Auch die italienischen Populisten müssen das akzeptieren.
Es zeichnet politische Willensbildungsprozesse heute gerade aus, dass sie unabgeschlossen bleiben, weil immer jemand Widerspruch erheben darf, kann und soll – sei es gegen Expertenentscheidungen, sei es gegen Mehrheitsentscheidungen. Nein, den guten Paternalismus gibt es in unseren Demokratien also nicht. Aber gut ist, dass es in unseren Demokratien auch Paternalismus gibt.
Mehr zum Thema