James Q. Whitman: "Hitlers amerikanisches Vorbild"

Wie die Nazis den Südstaaten-Rassimus studierten

Cover von James Q. Whitmans Buch " Hitlers amerikanisches Vorbild". Im Hintergrund ist Hitler 1934 im Reichstag zu sehen.
Cover von James Q. Whitmans Buch " Hitlers amerikanisches Vorbild". Im Hintergrund: Hitler 1934 im Reichstag. © C.H. Beck / imago stock&people
Von Jörg Himmelreich · 10.02.2018
Kaum zu glauben: Als die Nazis die Nürnberger Gesetze schrieben, lasen sie zuvor die rassistischen Gesetzen der amerikanischen Südstaaten. Heute lebt diese verborgene deutsch-amerikanische Wechselbeziehung in den USA wieder auf.
Internationale historische Rechtsvergleiche sind gewöhnlich eine sehr spröde Materie. Die hier vorgelegte Studie "Hitlers amerikanisches Vorbild" über die Rassegesetze der US-Südstaaten in den dreißiger Jahren enthält allerdings eine kleine Sensation: Der US-Rechtshistoriker James Q. Whitman weist nach, in welchem Ausmaß diese Rassegesetze der USA in den dreißiger Jahren das NS-Regime bei der Formulierung der Nürnberger Gesetze vom September 1935 beeinflusst haben. Wie die Rassegesetze im Süden der USA die Mischehen von Weißen mit Schwarzen verbaten und unter Strafe stellten, genauso untersagten die Nürnberger Gesetze Ehen mit Juden und drohten Strafe bei Zuwiderhandlung an.

Mit den "Nürnberger Gesetzen" wollte Hitler den Antisemitismus steuern

Sehr geschickt ordnet Whitman der Nürnberger Gesetze zum besseren Verständnis in die Geschichte nationalsozialistischer Machtergreifung ein. Hitler ging es – daran sei noch einmal erinnert – nach seiner Wahl am 30. Januar 1933 erst einmal darum, seine innerstaatliche und innerparteilichen Macht zu festigen. In der "Nacht der langen Messer" am 22. Juni 1935 gegen einen vorgeblichen Röhm-Putsch der SA entledigte Hitler sich radikaler Machtkonkurrenten in der Partei. Schon hatte es erste Ausschreitungen eines radikalisierter NS-Mobs gegen Juden gegeben. Diesem sich radikalisierenden Antisemitismus in der NS-Bewegung wollte Hitler Rechnung tragen und auf diese Weise machtpolitisch neutralisieren. Auch diesem Kalkül dienten die Nürnberger Gesetze.

Die Nazis studierten die Rassegesetze der US-Südstaaten

Daher erörterte Justizminister Gürtner mit siebzehn führenden NS-Juristen, darunter dem späteren Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler, am 5. Juni 1934 ausführlich ein "Gesetz zum Schutze deutschen Bluts", aus dem die späteren Nürnberger Gesetze hervorgingen. Das 1989 aufgetauchte Protokoll dieser Potsdamer Sitzung ist die Hauptquelle für Whitmans Argumentation. Denn dieses Dokument verrät unmissverständlich, wie minutiös die NS-Fachjuristen zur eigenen Orientierung die in den Südstaaten damals bestehenden US-Gesetze der rassischen Diskriminierung studiert haben. Zumal der US Supreme Court diese Verletzung des Gleichheitsgrundsatz mit der Ausdehnung seiner "Separate but Equal"-Doktrin gerechtfertigt hatte, nach der zwar im Prinzip alle die gleichen Rechte hätten, aber örtlich getrennt und nicht in jederlei Hinsicht.
Diese US-Rassismus-Gesetze betrafen zwar nicht Juden, aber das verdankten sie – so die verbreitete NS-Auffassung – nur deren starker Stellung in Politik und Wirtschaft der USA. Diese historische Parallele raubt einem den Atem.
Whitman zeigt auf, welch hohes Ansehen die USA als machtvoller Nationalstaat eines "nordischen, weißen Volks" schon in Hitlers "Mein Kampf" und daher bei vielen führenden NS-Vertretern in den frühen dreißiger Jahren noch genossen.

Tief verwurzelter Rassismus

Warum wird das erst jetzt erkennbar? Andere Historiker haben eine Vergleichbarkeit abgelehnt, weil sie die Nürnberger Gesetze in den Kontext des späteren Genozids gestellt hätten, den es in den USA nie gegeben hätte. Whitmann hingegen zieht die Parallelen zutreffend, weil zum Zeitpunkt des Erlasses der Nürnberger Gesetze auch im NS-Regime an die spätere "Endlösung" noch nicht gedacht wurde. Natürlich ist der US-Rassismus mit dem Nationalsozialismus und dem Hitler-Regime und deren Völkermord an den Juden nicht zu vergleichen. Wirksame US-Institutionen und eine grundsätzlich liberale Bundespolitik verhinderten eine Ausdehnung oder gar Steigerung des Rassismus der US-Südstaaten.
Nuanciert argumentierend zeigt diese sorgfältige, sehr spezielle historische Studie jenseits ihres eigentlich Erkenntnisziels wie tief und selbstverständlich der Rassismus der Südstaaten in die amerikanische politische DNA eingegraben ist. Wenn Trump nach den Gewaltausschreitungen mit tödlich Verletzten bei einem Nazi-Aufmarsch in Charlottesville im August letzten Jahres diese US-Nazis in Schutz nimmt, zeigt das an, wie schnell jene historischen, verborgenen deutsch-amerikanischen Wechselbeziehungen im Nationalsozialismus in den USA heute wieder aufleben. Trump macht es möglich.

James Q. Whitman: "Hitlers amerikanisches Vorbild"
C. H. Beck, 249 Seiten
26,95 Euro

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