Letzte Zuflucht: Shanghai
Bis 1941 gelang mindestens 18.000 Juden aus Europa die Flucht nach Shanghai. Danach war diese Flüchtlingsroute wegen des Kriegseintritts Japans versperrt. Eine Ausstellung an der Freien Universität erinnert nun an die europäischen Juden in Shanghai.
"An ihrem Hochzeitstag haben die beiden sich so gefreut, dass sie alle Papiere zusammen hatten und mich gezeugt. Also, ich bin in Frankfurt am Main gezeugt und in Shanghai dann auf die Welt gekommen."
So erzählt es Sonja Mühlberger über ihre Eltern. Kennengelernt hatten sie sich beim jüdischen Sportverein Schild in Frankfurt.
"Mein Vater spielte Fußball, meine Mutter Handball und später haben sich verlobt und dann im Februar 1938 geheiratet."
Eine Woche nach der sogenannten Kristallnacht im November 1938 wurde ihr Vater verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt. Von dort konnte er nach einiger Zeit eine Karte verschicken, so dass ihre Mutter zumindest wusste, wo er war, erinnert sich die heute 78-jährige Sonja Mühlberger.
"Mit dieser Karte und dem Wissen, wo er ist, ist sie dann jeden Tag mit dem Fahrrad zur jüdischen Gemeinde in Frankfurt am Main gefahren. Und dort standen die Frauen herum und da hat sie dies und jenes erfahren und unter anderem, dass Shanghai noch eine offene Stadt ist."
Unter Kontrolle der Kolonialmächte
Während fast alle anderen Länder ihre Grenzen für deutsche Juden geschlossen hatten, blieb Ende 1938 nur noch Shanghai als letzter Ausweg, sagt Mechthild Leutner, die Direktorin des Konfuzius-Instituts an der Freien Universität Berlin:
"Das war die letzte Möglichkeit durch ein Transitvisum oder durch gar kein Visum, einfach durch Vorzeigen einer Schiffspassage, die Ausreise bewilligt zu bekommen. Man musste eine Ausreisegenehmigung haben."
Eine Ausstellung im Berliner Konfuzius-Institut erinnert nun an diese wenig beachtete Geschichte jüdischer Emigration und die damals außergewöhnliche Situation in Shanghai.
"Shanghai selbst war 1938 schon von japanischen Truppen besetzt. Aber es gab zwei aus der Kolonialzeit herrührende International Settlements, die von französischer Seite oder britischer- bzw. US-Seite sozusagen regiert wurden, die also außerhalb der japanischen Besatzung standen."
"Nur weg aus Deutschland"
Dadurch bot sich diese letzte Möglichkeit zur Emigration. Und nach den Novemberpogromen 1938 schien vielen, die bis dahin gewartet hatten, alles besser, als in Europa zu bleiben.
"Wer kannte China? Also es war dann ja nur die Idee, nur weg aus Deutschland zu kommen. Und sie konnten kein Geld mitnehmen. Es waren Bürgerliche, die gingen; aber keine reichen Leute, keine Wohlhabenden. Sie kratzten sozusagen mit den letzten Mitteln, die sie hatten, kratzten sie das Geld für die Passage raus."
Ihre Mutter, erzählt Sonja Mühlberger, ging mit der Karte aus Dachau und den Ausreiseformularen in Frankfurt zur Gestapo. Dort beschimpfte man sie. Und doch schaffte sie das scheinbar Unmögliche.
"Mein Vater kam aber nach wirklich vier Wochen dann mit dem Versprechen, mit dem Ausreiseversprechen aus dem KZ. Ohne Haare natürlich. Ja und dann haben die beiden alles daran gesetzt, um an ein Ticket zu kommen und haben von den Eltern meiner Mutter, die später in Theresienstadt umgekommen sind, auch das Geld dafür bekommen."
Solidarität im Exil
Etwa 20.000 jüdische Emigranten, die meisten aus Deutschland, Österreich und Polen, schafften es, oft unter abenteuerlichen Bedingungen, bis nach Schanghai.
"Als meine Eltern ankamen, gab es ja schon zwei existente jüdische Gemeinden. Das war die sephardische Gemeinde und das war eine russische Gemeinde und die haben natürlich anfangs den Flüchtlingen geholfen. Also wirklich fantastisch."
Anfangs gab es auch noch Hilfslieferungen aus den USA, bis die Japaner 1942, nach Eintritt der USA in den Krieg, die exterritoriale Zone besetzten. Dann rückten alle noch näher zusammen, erinnert sich Sonja Mühlberger.
"Als es zum Beispiel ganz schlecht wurde, dass die Hilfslieferungen ausblieben, da wurden Aufrufe gestartet in der Zeitung, dass jede Familie, die es nur irgendwie kann, jemanden zu Tisch bitten wird und das haben wir auch gemacht. Also meine Mutter hat auf so 'nem kleinen Herd und hat dann jemanden mit bekocht."
Nur die wenigsten Flüchtlinge kehrten nach Deutschland zurück
Erst Mitte 1946 konnten die jüdischen Flüchtlinge Shanghai verlassen. Die allermeisten gingen nach Israel, Australien oder in die USA. Nur ganz wenige, etwa 500, darunter Sonja Mühlberger und ihre Eltern, kamen zurück nach Deutschland, nach Berlin. Niemand aus ihrer Familie hatte überlebt. Heute tritt Sonja Mühlberger manchmal auf, etwa an Schulen, um über ihr Leben zu berichten. Und sie fährt regelmäßig dorthin, wo sie geboren wurde.
"Das ist wie ein Heimkommen. Ich möchte sagen: Das ist wie ein Stück meines Lebens und meines frühen Lebens. Und da ich immer neugierig war und alles immer wissen wollte, kann ich eigentlich heute auch viele Geschichten erzählen und kann etliches erzählen, um etwas gegen das Vergessen zu tun."