Intellektuelle in den Parteien

Her mit den Querdenkern!

Heinrich Böll, Günter Grass und Bundeskanzler Willy Brandt bei der öffentlichen Podiumsdiskussion aus Anlass des 1. Kongresses des Verbandes Deutscher Schriftsteller am 21.11.1970 in der Stuttgarter Liederhalle.
Damals sprachen Intellektuelle und Politiker mehr miteinander: Günter Grass und Willy Brandt 1970. © dpa / picture alliance
Von Ulrike Ackermann · 17.11.2017
Querköpfe und Avantgardisten neben altgedienten Parteisoldaten in der Führungsriege? Kommt eher selten vor. Die Intellektuellen bleiben lieber in der Rolle des neutralen Beobachters. Das sollte sich dringend ändern, findet Ulrike Ackermann.
Können wir uns vorstellen, einen Minister in der neuen Regierung zu haben, zu dessen Qualifikationen es zählt, Emile Zola ins Deutsche zu übersetzen? Wohl zu gewagt, selbst für eine bunte Koalition in Deutschland. In Frankreich hat man weniger Berührungsängste mit dem Geist. Woran mag das liegen?
Obwohl inzwischen auch hierzulande die Volksparteien in Erosion geraten sind und vom Wähler abgestraft werden, ist der Werdegang eines Politikers und die Ochsentour in der jeweiligen Partei recht konventionell geblieben. Quereinsteiger findet man selten und Intellektuelle so gut wie gar nicht.
Parteien wollen in der Regel das Bild von Geschlossenheit, Einigkeit, Stabilität und Kontinuität vermitteln. Also das Gegenteil von Dissens, Konflikt, Skepsis und der Infragestellung alter Gewissheiten. Obwohl all dies gerade der Antrieb für Fortschritt, für neue Ideen und Wege, für Innovation ist, gibt es diesen merkwürdig anti-intellektuellen Affekt in der politischen Klasse.

Angst vor Untergrabung der Parteidisziplin

Die Angst ist dort erstaunlich groß, dass eigensinnige Querköpfe und Avantgardisten, so sie den steinigen Weg in die Politik überhaupt gewagt haben, aus der Reihe tanzen und Partei- und Fraktionsdisziplin untergraben könnten. Oder als Störenfriede politische Prozesse verlangsamen, womöglich zu komplex auf komplexe Herausforderungen reagieren würden.
Umgekehrt gibt es bei vielen Intellektuellen eine uralte Berührungsangst gegenüber der Politik. Seit der Dreyfus-Affäre Ende des 19. Jahrhunderts und Emile Zolas berühmtem Aufruf "J’accuse" – die Geburtsstunde der modernen Intellektuellen – hadern sie mit ihrer Rolle: öffentliches Eingreifen in Debatten oder Enthaltsamkeit gegenüber der schnöden Praxis? Einmischung in den profanen Betrieb der Realpolitik oder lieber doch den neutralen Beobachterstatus der hehren Wissenschaft behalten?

Angst, sich die Hände schmutzig zu machen

Über das komplizierte Verhältnis zwischen Intellektuellen und der Politik haben sich schon viele den Kopf zerbrochen. Denn zu ihrem Selbstverständnis zählt der Einspruch, die Unabhängigkeit ihres Denkens und immer auch die Kritik an der Macht. Sie wollen sich deshalb in der Regel nicht vor einen parteipolitischen Karren spannen lassen oder als Hofnarren fungieren.
Und viele haben schlicht Angst, sich die Hände im zuweilen derben politischen Betrieb schmutzig zu machen.
Es gehört zwar zu den Errungenschaften der bürgerlichen Gesellschaft, dass die Sphären von Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Kultur und Religion getrennt sind, auch wenn ihre Akteure kooperieren. Doch scheinen sich bei uns diese Sphären allzu sehr abzuschotten.
Thinktanks oder Salons, in denen Politiker, Philosophinnen, Ökonomen, Unternehmerinnern, Sozialwissenschafter und Kulturschaffende ihre unterschiedlichen Blickwinkel zusammentragen und den produktiven Perspektivenwechsel ermöglichen, sind rar. Obwohl wir auf nationaler, europäischer und globaler Ebene mit Herausforderungen konfrontiert sind, die jetzt Weitblick und neue Ideen verlangen – anstatt des herkömmlichen muddle through.

Mut und Pragmatismus

"Das Geheimnis der Freiheit ist Mut", hat der griechische Staatsmann Perikles 500 Jahre v. Chr. gesagt. Politiker würden diesen Mut zeigen, wenn sie sich auf unkonventionelle Geister einließen. Und Intellektuelle würden ihn zeigen, wenn sie realpolitischen Pragmatismus nicht verhöhnten, sondern das Beste in ihm aufzeigten.

Dr. Ulrike Ackermann, geb. 1957, Studium der Politik, Soziologie und Neueren Deutschen Philologie in Frankfurt/Main., ab 1977 Zusammenarbeit mit der Charta 77, dem polnischen KOR, der Solidarnosc und anderen Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa. Sie ist Professorin für Politikwissenschaften und Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung in Heidelberg.

Die Sozialwissenschaftlerin Ulrike Ackermann im Studio von Deutschlandradio Kultur.
© Deutschlandradio - Andreas Buron
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