Aufmarschpläne ohne Hitlers Anweisung

Rezensiert von Jörg Baberowski · 06.11.2011
Bisher waren sich die Historiker weitestgehend einig: Hitler hat seinen Zwei-Fronten-Krieg gegen den Willen der Wehrmacht geführt. Die Generäle hätten ihm später vorgeworfen, falsche Entscheidungen getroffen zu haben. Müller kommt in seiner Untersuchung zu einem anderen Ergebnis.
"Verlorene Siege", so hieß das Erinnerungsbuch des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein, das 1955 erschien. Die Wehrmacht habe all ihre Siege verschenkt, schrieb der General, weil sie von einem militärischen Laien und Hochstapler ins Verderben geführt worden sei. Niemals hätten die Generäle sich auf Schlachten eingelassen, die sie nicht hätten gewinnen können. Dieses Bild haben nach dem Krieg auch andere Heerführer verbreitet, besonders der Generalstabschef Franz Halder, der gesagt hatte, Hitler habe der militärischen Führung einen Krieg aufgezwungen, den sie nicht führen wollte.

In der Geschichtsschreibung über den Zweiten Weltkrieg galt bisher als unumstößliche Wahrheit, das die Entscheidung zum Überfall auf Polen von der Generalität zwar mitgetragen, der Krieg gegen die Sowjetunion aber von Hitler allein vorangetrieben worden sei. Überrascht seien die Heerführer gewesen, als Hitler ihnen Juli 1940 seine Entscheidung mitteilte, die Sowjetunion zu überfallen.

Diese Geschichte hält Rolf-Dieter Müller, Professor am Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr in Potsdam, für frei erfunden. Nicht Hitler, sondern die Generäle selbst, hätten im Jahr 1939 damit begonnen, Aufmarschpläne für den Krieg gegen die Sowjetunion auszuarbeiten. Von Anbeginn gab es für niemanden einen Zweifel, dass Hitler Krieg gegen die Sowjetunion führen wollte. Polen sei im Kalkül des Diktators anfangs sogar ein Verbündeter gewesen, mit dessen Hilfe er Stalins Imperium zu Fall bringen wollte. Noch im Frühjahr habe Hitler versucht, zu einer Verständigung mit der polnischen Regierung zu kommen. Müller schreibt :

"Polen und Japan waren vom Ende des Ersten Weltkrieges an natürliche Verbündete gewesen. Beide Mächte hatten es verstanden, die russische Armee zu schlagen." (S. 84)

Das Jahr 1939 hätte also ein Jahr des Krieges gegen die Sowjetunion werden können, wenn Polen sich auf eine Allianz gegen den großen Nachbarn im Osten eingelassen hätte. Erst als Hitler nicht mehr hoffen durfte, Verbündete für seinen Feldzug im Osten zu gewinnen, habe er den Entschluss gefasst, Polen zu besetzen, um von dort aus die Expansion nach Osten voranzutreiben. Im Oberkommando der Kriegsmarine wurden im Frühjahr 1939 sogar erstmals Angriffspläne entworfen.

"Ein baldiger Überfall auf die Sowjetunion, ein ‚Barbarossa 1939’, hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine klaren Konturen. Es lag aber zweifellos ‚in der Luft’ militärischer Planungsstäbe, die den erkennbaren politischen Absichten mit entsprechenden Vorschlägen entgegenarbeiteten." (S. 127)

Hitler musste seine Pläne allerdings verschieben, weil die Westmächte ihm den Krieg erklärt hatten und entschlossen waren, sich ihm zu widersetzen. Alle Versuche Hitlers, Frieden mit England zu schließen, um freie Hand für einen Krieg gegen die Sowjetunion zu gewinnen, scheiterten, und deshalb traf Hitler die Entscheidung, Frankreich anzugreifen. Die Westmächte sollten zum Frieden gezwungen werden. Hitler hatte keine Wahl: er musste sich der Sowjetunion aus taktischen Erwägungen wieder annähern. Er musste einen Krieg führen, den er nicht gewollt hatte, um sich auf den eigentlichen Krieg vorzubereiten:

"Die Gefahr, dass ihm bei einer Entscheidungsschlacht im Westen die Rote Armee in den Rücken falle könnte, schätzte Hitler geringer ein als im umgekehrten Fall." (S. 178)

Im Juli 1940 traf Hitler dann die Entscheidung, die Sowjetunion anzugreifen, weil er offenkundig nicht mehr erwartete, England niederzuwerfen. Später haben Hitlers Generäle behauptet, der Diktator allein sei für die fatale Eröffnung des Zweifrontenkrieges verantwortlich gewesen. Müller verweist diese Behauptung in das Reich der Legenden. Im Juni 1940 habe der Chef des Generalstabes, Franz Halder, erstmals Pläne für einen Aufmarsch der Wehrmacht gegen die Sowjetunion ausarbeiten lassen, obwohl Hitler dazu keine Anweisung erteilt hatte.

Halder, aber auch der Panzergeneral Heinz Guderian phantasierten von Schlachten, die in Wochen gewonnen werden könnten, weil sie die militärische Stärke der sowjetischen Armeen unterschätzten. Nicht Hitler, sondern seine Generäle, litten an einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Hitler war also nicht die treibende Kraft. Er war vielmehr ein Getriebener, schreibt Müller, als er am 31. Juli 1940 seine Absicht bekannt gab, die Sowjetunion anzugreifen.

"Man wird also festhalten können, dass die Besprechung am 31. Juli 1940 im Wesentlichen eine Reaktion Hitlers auf Überlegungen der Heeresführung gewesen ist. ... Der Ostkrieg ist – vor allem um diese Erkenntnis geht es – der Heeresführung nicht an diesem Tag als gleichsam ungeliebtes, unverstandenes Projekt vom ‚Führer’ aufgetragen worden. Diese maßgeblich von Franz Halder in der Nachkriegszeit erfolgreich verbreitete Legende verdeckt die Eigeninitiative und Mitverantwortung der militärischen Führungsspitze, die dem ‚Führer entgegengearbeitet’ hat, für den größten und blutigsten Krieg der Weltgeschichte. Ihr Antrieb lag nicht in der NS-Lebensraumideologie, sondern – bei aller Affinität zum Nationalsozialismus – in schlichter militärischer Routine." (S. 220f.)

Müllers Fazit ist eindeutig: der Krieg gegen die Sowjetunion war von Anbeginn Hitlers Projekt. Aber er hatte keine Vorstellungen darüber, wie er dieses Projekt verwirklichen sollte. Seine Generäle hätten ihm diese Entscheidung abgenommen. Sie planten einen konventionellen Krieg und nahmen in Kauf, dass der Diktator ihn für seine Vernichtungsstrategien missbrauchte.

Rolf-Dieter Müller: Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939
Ch. Links Verlag, Berlin 2011
Cover Rolf-Dieter Müller: "Der Feind steht im Osten"
Cover Rolf-Dieter Müller: "Der Feind steht im Osten"© Links Verlag
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