"Hitler wollte immer nach Osten"

Rolf-Dieter Müller im Gespräch mit Katrin Heise · 22.06.2011
Anlässlich des Jahrestages des "Unternehmens Barbarossa" stellt Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller klar, dass Hitler die Sowjetunion gerne früher überfallen hätte. Auch die Militärführung habe den Angriff lange vorbereitet und unterstützt.
Katrin Heise: Der Überfall auf die Sowjetunion heute vor 70 Jahren – in seinem Buch "Der Feind steht im Osten" geht Rolf-Dieter Müller, Historiker beim Militärgeschichtlichen Forschungsamt Potsdam, der Frage nach, wie die Verantwortung für diesen Feldzug eigentlich verteilt ist: War es wirklich Hitlers Krieg, zu dem die Spitzen der Wehrmacht gedrängt werden mussten?

Wir haben das Gespräch mit Rolf-Dieter Müller vor der Sendung aufgezeichnet, und zu Beginn wollte ich wissen, wann der Entschluss, die Sowjetunion zu überfallen, seiner Meinung nach eigentlich gefasst wurde, denn der bisherige Forschungsstand geht ja davon aus, dass das im Überschwang nach den Blitzkriegssiegen gegen Polen und Frankreich war. Müller geht da viel weiter zurück.

Rolf-Dieter Müller: Also im Mittelpunkt bei mir steht die Frage, wann zum ersten Mal in Deutschland über einen Angriffskrieg gegen Russland nachgedacht worden ist: Das ist in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts bereits der Fall gewesen. Da hatte man allerdings das Beispiel von Napoleon schon vor Augen, der ja in Moskau angekommen ist, aber trotzdem gescheitert ist. Also es gab im Generalstab durchaus unterschiedliche Auffassungen, wie ein solcher möglicher Krieg gegen Russland zu führen ist und ob man besser die Finger davon lässt.

Von da ab untersuche ich also über den Ersten Weltkrieg, über die Weimarer Republik die Phase der intensiven geheimen Zusammenarbeit zwischen deutschen Militärs und der Roten Armee dann bis zu Hitlers Machtergreifung und die weiteren Folgen.

Heise: Im Untertitel Ihres Buches ist die Rede von Hitlers geheimen Plänen zum Angriff auf die Sowjetunion 1939. Was verbirgt sich dahinter, welche Pläne?

Müller: Dahinter verbirgt sich eben eine neue These, die die Geschichte, die Vorgeschichte von Barbarossa nicht als ein Spiel der Diktatoren, sozusagen als eine deutsch-sowjetische Geschichte auffasst, sondern die Rolle Polens und Japans eben auch mit einbezieht und fragt: Welche Vorstellungen hatte man eigentlich in den 30er-Jahren von einem Krieg gegen die Sowjetunion? Gab es das überhaupt?

Und da weise ich doch auf eine Fülle von interessanten Fakten hin, die zeigt, dass seit 1935 bei den militärischen Planungen diese Möglichkeit eines Krieges gegen Russland intensiv bedacht und auch planerisch vorbereitet worden ist, sodass man im Jahre 1939 vor der Möglichkeit gestanden hatte, als Nächstes also die Sowjetunion anzugreifen.

Lassen Sie mich das zusammenfassen: Hitler wollte immer nach Osten und er wollte so schnell wie möglich nach Osten, auch bereits in den 30er-Jahren, 39 – 38, 39 war so der Zeitpunkt gekommen.

Heise: Also man spricht immer von so einem Stufenplan, wo am Ende dann der Lebensraum im Osten stand. Sie würden das viel früher ansiedeln?

Müller: Ich siedle das viel früher an und zeige im Jahre 1939 vier Gelegenheiten, wo eine solche Option gewissermaßen im Raum stand, wo es auch zur Grundlage militärischer Überlegungen und für Hitlers Entscheidungen dann eine Rolle gespielt hat.

Heise: Wer war dann eigentlich die treibende Kraft bei diesem Feldzug? Hitler, oder – welche Rolle spielt die Wehrmachtsführung bei der Entscheidung?

Müller: Das ist eine insofern interessante Frage, weil ich zwar die Bedeutung Hitlers vor dem alten Forschungsstand gewissermaßen relativiere und auch die ideologischen Faktoren, indem ich eben auf die Militärs schaue und zeige, dass sie die Initiative ergriffen haben, dass sie gewissermaßen Schubladenpläne vorbereitet hatten, dass sie auf diesen Krieg gegen den Osten besser vorbereitet waren und eher vorbereitet waren als die Feldzüge im Westen, aber sie resultierten nicht aus einer imperialistischen Ideologie. Die Militärs hätten auf den Krieg gegen Russland auch durchaus verzichten können. Insofern – für die war es eine Art von Routine, über die eben seit Jahren nachgedacht worden ist.

Sie hatten auch einen bestimmten Krieg vor Augen: Ein herkömmlicher Krieg, wie er 1917 ja zu einem deutschen Sieg über die russische Armee geführt hat. Insofern laufen die ersten Planungen von Barbarossa dann konkret, als es im Juli 1940 dann losging, auf die Idee der Militärs ... auf einen begrenzten Schlag im Osten. Hitler weist diese Pläne zurück und steckt den Rahmen größer ab, ohne dass man zeigen kann, dass er selber konkrete Vorstellungen gehabt hätte, wie ein solcher Krieg zu führen ist.

Und diese Planung Barbarossa bekommt dann einen anderen Touch, indem Hitler die Vorbereitung für eine Besatzungspolitik aufgreift, um zu sagen, so nicht, den Generalen zu erklären, der Krieg im Osten wird anders geführt als im Westen, das ist eben ein Weltanschauungskrieg, keine Kameraden – und da beginnt sozusagen diese verbrecherische Richtung, was im Verhalten gegenüber der Bevölkerung, den Politkommissaren, den Kriegsgefangenen, Hungerpolitik und so weiter anbelangt.

Heise: Neue Forschungen zum Überfall auf die Sowjetunion vor 70 Jahren, im Deutschlandradio Kultur hören Sie Rolf-Dieter Müller, Militärhistoriker vom Forschungsamt Potsdam. Herr Müller, wie wichtig ist das aber gerade – Sie haben davon gesprochen: Für die Militärs war es Routine, aber sie mussten nicht gedrängt werden dazu. Wie wichtig ist das, diese andere Verantwortung, die Sie da eigentlich verteilen?

Müller: Die ist deshalb wichtig, weil wir die Legende von der sauberen Wehrmacht im Hinblick auf die Verbrechen in den letzten Jahrzehnten haben widerlegen können. Die Frage aber, auf wen geht dieser Krieg eigentlich zurück, das ist ja eine Frage, die bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen gestellt worden ist und wo auch der Generalstab angeklagt gewesen ist.

Und hier zeige ich, dass eben ich von einer Art von Verschwörung ausgehe, dass der Generalstab, dass die militärische Führungsspitze ein Interesse daran gehabt hat, ihre Verantwortung für den Ausbruch des zweiten Weltkrieges 1939 und für den Umschwung nach Osten 1940, 1941 vertuscht hat, Hitler hier als den Hauptschuldigen präsentiert hat und dann auch noch die Präventivkriegslegende in die Welt gesetzt hat, wonach Hitler gewissermaßen nur auf die sowjetische Bedrohung reagiert habe. Und insofern – das ist in Nürnberg im Grunde genommen durchgegangen, insofern hat es einen Freispruch für den Generalstab gegeben.

Wir haben uns daran gewöhnt: Hitler ist an allem schuld und er ist sozusagen ein von der Rassenideologie besessener Kriegszündler, jemand, der die schönen Pläne des Generalstabs dann durch seine ständigen Eingriffe, wenn ich mal so sagen darf, versaut hat, und der Generalstab hätte diesen Krieg gewonnen, wenn man ihn nur gelassen hätte – das gehört auch zu dieser Legende.

Heise: Genau, Legende, denn das heißt, dass der Generalstab, dass die Pläne, die da ja schon doch länger dann in der Schublade lagen, so gut dann eigentlich auch nicht waren.

Müller: Nein, aber bis heute herrscht dieses Bild vor und wird auch von bestimmten Kreisen sozusagen dargestellt, als ob der Generalstab eben einen fantastischen Masterplan sozusagen entworfen hätte, den Hitler durch seine Eingriffe vermurkst hat, und da wird ein Nimbus aufrecht erhalten sozusagen des deutschen Militärs, das zumindest in professioneller Hinsicht absolute Spitze gewesen ist, als ob also die Deutschen sozusagen Weltmeister in operativer Führungskunst gewesen seien. Das war ja auch eine Eintrittskarte nach 1945 in Zusammenarbeit mit den Amerikanern bei der deutschen Wiederbewaffnung.

Heise: Welche Quellen haben Sie benutzt, um zu diesem Schluss zu kommen? Denn bisher ist das ja immer anders gewichtet worden.

Müller: Ja, ich habe eine Reihe von neuen Quellen gefunden, aber ich habe vor allen Dingen auf die Lücken hingewiesen, die auffälligen Lücken, die in der Überlieferung bestehen, und auf die Widersprüche hin der Interpretationen der Ereignisse. Wenn ich ein Beispiel rausnehmen darf: Hitler war am 3. September 1939 entsetzt, als ihm die Kriegserklärung der Westmächte überreicht worden ist. Er hatte ja diesen überraschenden Pakt mit Stalin gemacht, um zu bluffen, um die Westmächte davon abzuhalten, einzugreifen. Er hatte gehofft, dass sie Polen fallen lassen.

Die Frage stellt sich aber doch: Was wäre gewesen, wenn Hitlers Rechnung aufgegangen wäre? Wovon ging er dann aus? Dann hätte er Polen, das ganze Polen sozusagen besetzen können, hätte die immer gewünschte Rückendeckung gehabt durch die Westmächte und hätte eben seinen Krieg im Osten, den er lange schon angestrebt hat, eben auch tatsächlich durchführen können.

Heise: Es gab aber auch mal Pläne, davon schreiben Sie, dass Hitler eigentlich mit Polen auch gemeinsame Sache machen wollte gegen die Sowjetunion.

Müller: Polen spielt immer eine ganz zentrale Rolle, das ist die Barriere gewesen sozusagen, die im Osten ist, aber Polen war eben auch der Staat, der 1920 als Dritter die russische Armee in diesem Jahrhundert geschlagen hatte – 1905 Japan, 1917 hatten die Deutschen Russland geschlagen, 1920 hatte Polen Russland militärisch besiegt.

Also insofern gab es bei aller Polenfeindschaft natürlich auch in der deutschen Armee und in der Öffentlichkeit, um Teil auch in der Nazi-Partei bei Hitler aber auffälligerweise, wie ich zeige, also gar keine stark ausgeprägten antipolnischen Ressentiments, sondern er macht 1934 ja einen Pakt mit dem alten Marschall Pilsudski in Warschau, der in Deutschland von den Militärs zumindest sehr bewundert worden ist. Der Hitler-Pilsudski-Pakt war 1934 genauso sensationell wie fünf Jahre später der Hitler-Stalin-Pakt. Das ist ein Thema, das für die polnische Geschichte heute durchaus natürlich problematisch ist.

Ich gehe also davon aus, dass das nicht ein Trick Hitlers gewesen ist, um die Polen von ihren westlichen Verbündeten zu lösen, sondern dass das ernst gemeinte Angebote für eine Militärallianz gegen Russland gewesen sind, sozusagen eine gemeinsame Kumpanei, wie sie ja 1938 bei der Zerschlagung der Tschechoslowakei funktioniert hat, wo Polen sich an der Zerschlagung der Tschechoslowakei auch beteiligt hat.

Heise: Was ziehen Sie für Schlüsse daraus, beziehungsweise was wünschen Sie sich, was jetzt aus diesen, aus Ihren Forschungsergebnissen folgt? Muss quasi die Wehrmachtsgeschichte noch mal irgendwie anders geschrieben werden?

Müller: Dafür gibt es einen Anstoß, über den wir ja gerade gesprochen haben, dass man sozusagen die Verantwortung des Generalstabs für die Aggressionspolitik in diesem Falle also gegen Russland, aber auch für die Auslösung des Zweiten Weltkrieges noch mal bedenken sollte, dass man nicht wieder sich darauf zurückzieht, nur sozusagen Hitler als den allein Schuldigen zu sehen. Es geht darum, sozusagen die Professionalität des deutschen Militärs, den Nimbus kritisch zu hinterfragen.

Aber wichtiger ist mir eigentlich, dass wir sehen: Das ist ein Teil der Geschichte, die uns mit unseren osteuropäischen Nachbarn verbindet, und ich denke, dass der Impetus berechtigt ist, zu einer gemeinsamen Betrachtung zu kommen und man sich noch einmal auch mit jenen Aspekten der Vergangenheit beschäftigt, die so scheinbar seit 30 Jahren geklärt sind.

Heise: Das wünscht sich Rolf-Dieter Müller, er ist Militärhistoriker am Forschungsamt Potsdam. Vielen Dank, Herr Müller, für dieses Gespräch!

Müller: Bitte schön!

Linktipp:
Stoßrichtung nach Osten, eine Rezension von Rolf-Dieter Müllers Buch "Der Feind steht im Osten. Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion 1939"
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