"antigone. ein requiem"

Warum ist Thomas Köck der Dramatiker der Stunde?

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Fabio Menéndez als Kreon auf der Bühne
Verengte Sicht auf die Welt: Fabio Menéndez als Kreon in "antigone. ein requiem" im Theater an der Ruhr in Mülheim. © Franziska Götzen
Von Bernhard Doppler · 12.09.2020
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Thomas Köcks Stücke werden derzeit auf vier deutschsprachigen Bühnen gespielt. In Wien und Mülheim ist „antigone. ein requiem" zu sehen. Was macht den aktuellen Reiz von Köcks Werk aus?
Im YouTube-Kanal des Theaters an der Ruhr, "Potosi TV", kann man den Probenprozess zu dem Stück "antigone. ein requiem" des österreichischen Dramatikers Thomas Köck mit verfolgen. Er begann kurz vor dem Lockdown mit einer Expedition nach Bolivien, in die Stadt Potosi, einer der Geburtsstädte des Kapitalismus: Silberminen in 4000 Meter Höhe, voll mit giftigen Nebelschwaden.
In der Inszenierung der Regisseurin Simone Thoma ist Köcks "Requiem" nun als Fernsehshow mit geladenen Experten als Gästen auf der Bühne in Mülheim zu sehen. Die Experten werden zu Antigone, Ismene, Kreon und Teiresias. Nicht die Leiche des Bruders, sondern die Leichen der Bootsflüchtlinge, der Fremden, sollen bestattet werden. Es sind unsere Leichen. In ihnen soll auch das eigene Schicksal erkannt werden.
Köcks "antigone" ist auch Spielzeiteröffnung im Wiener Akademietheater. Lars Ole Walburg inszeniert, und reduziert das Stück auf die Anfänge des antiken Theaters, auf den Chor, aus dem sich ewig lange gewundene Botenberichte – mediale Meinungen – herausschälen:

Zeugnis für Zerrissenheit der Zeit

"Was ich wollte, war eigentlich vor allem eine Setzung, ich wollte aus einer Gemeinschaft heraus immer wieder den Chor bilden, aus dem heraus sich die einzelnen Personen schälen", sagt Walburg. "Das hat etwas damit zu tun, so wie ich dieses Stück begreife, dass es ein Zeugnis ist unserer Zeit, der Zerrissenheit unserer Zeit, unserer Meinungsunentschiedenheit, unserer Gesellschaft."
"Als ich es das erste Mal das gelesen habe, habe ich leise gelesen, und war am Ende erst mal ein bisschen irritiert, weil es gar nicht so einfach zu verstehen ist", so Walburg. "Es gibt keine Kommata, keine Punkte, keine Satzzeichen, und dann habe ich angefangen, es immer wieder laut zu lesen, erst im Lautlesen offenbart sich der Inhalt des Textes und da merkt man, dass er Rapper ist."

Tragische Erzählungen gehen unter die Haut

Großes antikes Theaterfest und Konzert. So kann man auch Christopher Rüpings Inszenierung von Köcks Paradies-Trilogie in Hamburg am Thalia Theater sehen. Im Zentrum die Band von Lia Sahin und die oft von Projektoren abgelesenen Texte von Köck. Doch gerade so gehen die in die Trilogie eingewebten leisen tragischen Erzählungen unter die Haut: etwa die von den zwei chinesischen Wanderarbeitern, die in einer italienischen Fabrik angekommen, isoliert, abgeschlossen von der Außenwelt, schuften müssen.
Die Grenzen sind dicht, verkündete Schauspieldirektorin Iris Laufenberg in Graz mitten in den Proben zu einem Stück über Grenzen: "die dritte republik. eine vermessung". Nach gut vier Monaten wurden die Proben wieder aufgenommen, und nun damit das große Haus eröffnet. War es nun plötzlich auf andere Weise aktuell geworden?

Antiker Chor mit dümmlichem Gesang

"Als es dann hieß, dass wir weitermachen, habe ich gedacht, ich finde Aktualisierung so was von langweilig", sagt Regisseurin Anita Vulesica. "Für mich ist das eine Komödie, eine groteske Komödie, von einer, die auszog, sich auszukennen in der Welt, als Metapher heißt es da, 'nach 1918 werden die Grenzen neu vermessen'. Und das ist aber eine Metapher: Nach einem großen Krieg einer großen Katastrophe, will jemand Ordnung schaffen und glaubt, dass eine Behörde einen losschickt, und dann wird alles wieder gut, wenn man da genau weiß, wo die Grenzen sind. Es sind so viele Paradoxe da drinnen, dass das Spaß macht und einen erinnert an 'Alice im Wunderland'."
Einen antiken Chor – als Videoprojektion Köpfe von Jugendlichen mit eher dümmlichem Gesang – gibt es dabei auch. Ist das mit Thomas Köck nun so wie bei Elfriede Jelinek Jelineks Stücken? Zu jedem aktuellen politischen Thema liefert Jelinek ja ein Textangebot, das sogleich von mehreren Bühnen aufgegriffen wurde: zu Trump, zum Ibiza-Skandal in Österreich oder Dopingvorwürfen im Sport.
Nun eröffnet gleich an vier Theatern Thomas Köck die Saison, in Mülheim, in Wien, in Graz und in Hamburg – keineswegs Uraufführungen, aber sehr aktuell: zu Grenzziehungen, Bootsflüchtlingen, zu Sammelunterkünften ausländischer Gastarbeiter. Und doch sind sie ganz anders als Jelinkes Textangebote: Konzerte und poetisches Welttheater.
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